Seelentod
Als sie das Portemonnaie öffnete, fand Vera die Mitgliedskarte der Frau für den Fitness-Club. Das Foto war klein und grobkörnig, aber es zeigte ganz eindeutig das Opfer. Und da stand auch ein Name.
Jenny Lister. Einundvierzig Jahre alt. Als Adresse war ein Dorf im Tyne Valley angegeben, Barnard Bridge, etwa fünf Meilen entfernt von hier. Sehr nett da, dachte Vera, und ziemlich genau das, was sie erwartet hätte. Aber wieso sollte irgendjemand eine Frau Anfang vierzig aus einer wohlhabenden Gemeinde im ländlichen Northumberland umbringen wollen?
Rasch ging sie den Inhalt des Portemonnaies durch. Ein paar Kredit- und Scheckkarten, die auf denselben Namen ausgestellt waren, und zwanzig Pfund in bar. Auf einer der Kreditkarten stand Mrs Jenny Lister. Es gab also einen Ehemann, oder es hatte wenigstens mal einen gegeben. Wenn das Paar noch zusammenlebte, war er wahrscheinlich gerade bei der Arbeit. Vera sah auf ihre Uhr. Es war schon später Nachmittag. Vielleicht hatten die zwei zusammen gefrühstückt und dabei den bevorstehenden Tag besprochen. Und bis jetzt ahnte der Mann nicht, was seiner Frau zugestoßen war, er machte sich keinerlei Sorgen. Außer natürlich, er war ihr gefolgt und hatte sie erdrosselt.
Oben in der Lounge waren Ashworth und seine Kollegen mit den Mitgliedern des Aqua-Aerobic-Kurses beinahe durch. Ashworth benutzte ein kleines Büro und rief jeden einzeln herein, um die Kontaktdaten aufzunehmen und zu fragen, ob derjenige im Dampfbad gewesen sei oder irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt habe. Auf dem Schild vor der Bürotür stand «Ryan Taylor, stellvertretender Geschäftsführer».
«Wer ist hier eigentlich der richtige Geschäftsführer?», fragte Vera, einen Augenblick lang abgelenkt. «Der Big Boss?»
«Eine Frau namens Franklin. Sie ist im Urlaub. Marokko.»
«Wie nett.» Das sagte sie ganz automatisch, aber Vera wusste, dass sie selbst es nicht aushalten würde, in ferne Länder zu reisen. In der Hitze bekam sie immer am ganzen Körper Ausschlag.
Ashworth war allein und notierte noch etwas zu der gerade durchgeführten Befragung.
«Wir haben jetzt einen Namen», sagte Vera. «Jenny Lister. Hat draußen in Barnard Bridge gewohnt.»
«Dann muss sie wohl ganz gut betucht gewesen sein.» Ashworth blickte von seinem Blatt Papier auf.
«Ich fahre da jetzt mal hin. Vielleicht hat sie ja Kinder, die noch zur Schule gehen. Denen erzähle ich lieber gleich, was passiert ist, bevor sie alle ihre Freunde anrufen, um rauszukriegen, wo sie steckt, und eine Menge Wirbel und Ärger verursachen.»
«Gut», sagte Ashworth. «Wollen Sie, dass jemand mitkommt?»
«Ich glaube, da finde ich schon allein hin.» Vera wusste, dass es nicht ihre Aufgabe war, im Haus und in der Familie der Toten herumzuschnüffeln. Bei ihren Beurteilungen hatte man ihr immer wieder gesagt, dass ihre Rolle eine strategische sei. Sie sollten lernen, zu delegieren, Inspector. Aber das hier konnte sie besser als irgendjemand sonst in ihrem Team – wieso also sollte sie die Sache an einen Ermittlungsbeamten delegieren?
«Und was mache ich, wenn ich hier fertig bin?»
«Reden Sie mit den Angestellten», sagte Vera. «Das wollte ich eigentlich tun, aber ich mache mich besser mal auf den Weg zu den Listers. Da ist diese Kleine, Lisa. Sie kommt mir ein bisschen zappelig vor, vielleicht geht ihr ja was im Kopf rum. Die Frau am Empfang heißt Karen. Sie hat einen Sohn, der studiert und in den Osterferien hier als Reinigungskraft aushilft. Unterhalten Sie sich mal mit ihm. Wir müssen überprüfen, ob er das Dampfbad gestern Abend sauber gemacht hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Leiche die ganze Nacht über hier war. Nicht sehr wahrscheinlich, man sollte meinen, jemand hätte die Tote als vermisst gemeldet, aber mit ihm reden müssen wir so oder so. Kriegen Sie raus, ob jemand sich an das Opfer erinnert. Taylor sollte in der Lage sein, uns ein Foto vom Mitgliedsausweis zu kopieren. Die Bilder werden hier gemacht, wenn man dem Club beitritt, also sind sie ja wohl irgendwo im Computer gespeichert.»
«Sind Sie etwa Mitglied hier?» Ashworth verbiss sich ein Grinsen.
Vera überhörte die Frage. «Zeigen Sie den Angestellten das Foto, achten Sie darauf, ob jemand sie erkennt. Und sagen Sie Holly, sie soll ihren Computerfritzen rauskriegen lassen, um wie viel Uhr Jenny heute Morgen in den Club gekommen ist.» Sie löste den Autoschlüssel von dem Schlüsselbund, der an Jenny Listers Portemonnaie befestigt gewesen war.
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