Seelentod
des Jungen nach Hannah sehen. Zumindest so lange, bis sie den Vater erreicht hatte. Hannah hielt ihr Handy schon in der Hand und tippte die Nummer ein. In letzter Sekunde, als es zu läuten anfing, gab sie es Vera. «Würde es Ihnen was ausmachen? Ich kann das nicht. Was soll ich denn sagen?»
«Hallo, du.» Die Stimme war tiefer, als Vera erwartet hatte, warm und sexy. Plötzlich dachte sie, dass zu ihr noch nie jemand so gesprochen hatte.
«Hier spricht Inspector Vera Stanhope von der Polizei Northumbria. Es hat einen unerwarteten Todesfall gegeben. Hannahs Mutter. Hannah hat mich gebeten, Sie anzurufen. Könnten Sie vielleicht herkommen? Sie braucht jemanden in ihrer Nähe.»
«Ich bin schon da.» Das Telefon wurde eingehängt. Kein Versuch, sich herauszureden. Vera war froh, dass Hannah sich offenbar nicht mit einem Idioten eingelassen hatte.
«Er ist unterwegs», sagte sie.
Während sie auf ihn warteten, machte Vera Tee. Sie lechzte nach einer Tasse Tee, und die Pastete hatte ihren Hunger nicht so recht gestillt. In diesem Haus gab es bestimmt auch Kekse, vielleicht sogar selbstgebackenen Kuchen …
«Womit hat Ihre Mutter sich den Lebensunterhalt verdient?» Sie hatte den Wasserkessel aufgesetzt und drehte sich wieder zu Hannah um, die immer noch ins Leere starrte. Im Haus gab es keine Hinweise, nichts, woraus Vera etwas hätte schließen können, doch sie tippte auf irgendwas mit Kunst. Die Einrichtung – die Möbel, das Geschirr, die Bilder – hatte bestimmt nicht viel gekostet, zeugte aber von Geschmack.
Hannah blickte langsam auf. Es war, als hätte die Frage Stunden gebraucht, um bis zu ihrem Verstand vorzudringen. «Sie war beim Sozialamt. Hat sich um Pflegekinder und Adoptionen gekümmert.»
Vera musste ihr Weltbild zurechtrücken. Sie hatte noch nie viel von Sozialarbeitern gehalten. Das waren entweder Wichtigtuer, die sich in alles einmischten, oder aber nutzlose Jammerlappen. Als ihre eigene Mutter gestorben war, war auch eine Sozialarbeiterin zu ihnen gekommen, die sich damals aber anders genannt hatte. Beamtin von der Jugendfürsorge, das war es. Hector hatte sie umgarnt, ihr erzählt, dass er sich natürlich bestens selbst um seine Tochter kümmern könne, und das war das Letzte gewesen, was sie von dieser Frau gesehen hatten. Und auch wenn Hector alles andere als ein Vorzeigevater gewesen war, war Vera sich nicht sicher, ob es mit einem Sozialarbeiter irgendwie besser gewesen wäre. Sie brauchte Hannah nichts zu erwidern, denn an der Eingangstür klopfte es kurz, dann kam Simon herein. Er muss einen eigenen Schlüssel haben. Das schoss ihr durch den Kopf, während sie zusah, wie der junge Mann Hannah in die Arme schloss. Es konnte wohl kaum etwas zu bedeuten haben, schließlich war Jenny ja nicht zu Hause umgebracht worden, aber er wirkte doch wie ein Teil der Familie, und der Gedanke, dass das Paar verlobt war, kam ihr jetzt nicht mehr so lächerlich vor.
Simon war groß und dunkelhaarig und überragte Hannah. So richtig gut sieht er ja nicht aus, dachte Vera. Leicht übergewichtig, eine Streberbrille, unglaublich große Füße. Doch zwischen den beiden herrschte eine so spannungsvolle Anziehung, selbst in diesem Moment, in dem das Mädchen solchen Kummer hatte, dass es Vera schier den Atem raubte. Sie verspürte einen düsteren, eifersüchtigen Stich. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht erlebt, und das werde ich jetzt wohl auch nicht mehr.
Er setzte sich auf einen der Küchenstühle, nahm Hannah auf den Schoß und fing an, ihr das Haar aus der Stirn zu streichen, als wäre sie ein kleines Kind. Es wirkte so vertraulich, dass Vera einen Augenblick lang wegschauen musste.
Nur mit Mühe wandte der Student die Aufmerksamkeit von seiner Freundin ab und nickte Vera kurz zu. «Ich bin Simon Eliot, Hannahs Verlobter.»
«Was hat Jenny denn von Ihrer Verlobung gehalten?» Sie musste ein Gespräch in Gang bringen, und es war unmöglich, dabei nicht auf ihre Verbindung zu kommen. Auch Jenny konnte die ja nicht ignoriert haben.
«Sie hat gemeint, wir sind zu jung.» Hannah rutschte von Simons Schoß herunter und setzte sich auf den Stuhl neben ihm, ließ aber eine Hand auf seinem Schenkel liegen. «Wir wollten eigentlich diesen Sommer schon heiraten, aber sie hat uns gebeten, noch zu warten.»
«Und waren Sie damit einverstanden?»
«Am Ende ja. Wenigstens, bis Simon seinen Magister hat. In einem Jahr. Das kommt einem vor wie eine Ewigkeit, aber wenn’s ihr so lieber
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