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Seelentod

Seelentod

Titel: Seelentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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der Wand hing eine große Korkplatte, an die Fotos gepinnt waren. Das Opfer mit dem Mädchen, beide lächelten in die Kamera. An der Identität der Toten gab es keinen Zweifel, und das machte Vera plötzlich sehr traurig. Jenny sah aus wie eine nette Frau. Wieso sollten denn nicht auch nette Frauen Mitglied in einem Fitness-Club werden?
    «Ja, mein Dad hat uns verlassen, als ich noch klein war.» Das Mädchen hatte rotes Haar und den milchigen, cremefarbenen Hautton, der so oft damit einhergeht. Sie trug Jeans und ein langes, geblümtes Baumwolltop. Die Füße waren bloß. Sie war so dünn, dass man ihr Alter nur schwer einschätzen konnte. Oberstufenschülerin vielleicht. Aber höflich und freundlich. Keine Spur von der Pampigkeit der Heranwachsenden, von der man immer las. Sie stand immer noch, lehnte an der Fensterbank und schaute hinaus.
    «Setzen Sie sich doch», sagte Vera. «Wie heißen Sie, Herzchen?»
    «Hannah.» Das Mädchen setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Vera. «Können Sie mir bitte sagen, was das alles soll?»
    «Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht schonend beibringen, Liebes. Ihre Mutter ist tot.» Vera lehnte sich über den Tisch und nahm Hannahs Hände. Es war sinnlos, zu sagen, wie leid ihr das tat. Was würde das nützen? Als ihre eigene Mutter starb, war sie jünger gewesen als die Kleine hier. Aber sie hatte wenigstens noch Hector gehabt. Mochte der auch ein selbstsüchtiger Bastard gewesen sein, er war doch besser als niemand.
    «Aber nein!» Das Mädchen sah sie an, es schien Vera fast schon zu bedauern dafür, dass ihr ein so lächerlicher Fehler unterlaufen war. «Meine Mutter ist nicht krank. Für ihr Alter ist sie ganz schön fit. Sie geht schwimmen, macht Pilates, geht tanzen. Gerade erst hat sie einen Flamenco-Kurs gemacht.» Sie hielt inne. «Oder ein Unfall? Aber sie ist eine total vorsichtige Fahrerin. Krankhaft vorsichtig. Sie haben sie bestimmt verwechselt.»
    «Ist sie Mitglied im Willows-Fitness-Club?»
    «Ja, die Mitgliedschaft habe ich ihr geschenkt. Vorletztes Jahr ist sie vierzig geworden. Ich wollte ihr was Besonderes schenken und habe meinem Vater ein paar Schuldgefühle eingeredet, um das Geld aus ihm rauszuquetschen.» Das Mädchen schien schließlich doch zu glauben, was man ihm sagte, und starrte Vera entsetzt an.
    «Sie ist keines natürlichen Todes gestorben.» Vera blickte Hannah an, um sicherzugehen, dass diese verstand, was sie sagte, und sah, wie Tränen die makellosen Wangen hinabkullerten. Das Mädchen blieb stumm, und Vera fuhr fort: «Sie ist umgebracht worden, Hannah. Jemand hat sie ermordet. Das ist furchtbar. Mehr als irgendjemand ertragen kann, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Mein Job ist es, herauszufinden, wer sie umgebracht hat. Und je mehr ich über sie weiß, desto eher finde ich das heraus.»
    «Kann ich sie sehen?»
    «Natürlich. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie persönlich zum Leichenschauhaus. Aber das wird erst spät heute Abend möglich sein, vielleicht auch erst morgen.»
    Hannah saß Vera gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster. Die Sonne ließ ihr Haar aufleuchten wie einen Heiligenschein.
    «Wollen Sie, dass ich Ihren Vater bitte herzukommen?» Am besten, sie hielt sich an die Vorschriften.
    «Nein. Er ist in London. Da wohnt er jetzt.»
    «Wie alt sind Sie, Hannah?»
    «Achtzehn.» Sie antwortete automatisch, stand zu sehr unter Schock, um Veras Recht, ihr Fragen zu stellen, in Zweifel zu ziehen.
    Erwachsen also, für sich selbst verantwortlich. Sie brauchte keinen Aufpasser mehr. Zumindest nicht nach dem Gesetz. Trotzdem sah sie wie ein kleines Mädchen aus. «Gibt es sonst jemanden, den Sie gerne um sich hätten? Einen Verwandten?»
    Sie blickte auf. «Simon. Bitte lassen Sie Simon kommen.»
    «Und das ist wer?»
    «Simon Eliot. Mein Freund.» Sie schwieg kurz. Dann verbesserte sie sich trotz ihres Kummers und der Verwirrung, und der Gedanke schien sie zu trösten: «Mein Verlobter.»
    Vera hätte am liebsten gelächelt. Spielten sie hier Vater, Mutter, Kind? Wer heiratete heutzutage denn noch so jung? Aber sie blieb ernst. «Wohnt er auch hier?»
    «Seinen Eltern gehört das große weiße Haus am anderen Ende des Dorfs. Sie sind auf dem Weg hierher bestimmt daran vorbeigekommen. Er geht auf die Uni, in Durham. Ist über die Osterferien zu Hause.»
    «Warum rufen Sie ihn nicht an? Bitten Sie ihn herzukommen. Oder wollen Sie, dass ich mit ihm rede?» Vera dachte, wenn es sonst niemanden gab, könnten ja die Eltern

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