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Seelentod

Seelentod

Titel: Seelentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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in schroffem Ton zu Vera in die Berge bestellen ließ: «Nur weil sie selbst keine Familie und kein Leben neben dem Job hat, heißt das noch lange nicht, dass du immer alles fallen lassen und zu ihr hinrennen musst.» Ashworth hatte versucht, dem mit einem Scherz die Spitze zu nehmen: «Wenigstens brauchst du nicht zu befürchten, dass wir eine Affäre anfangen!» Schließlich war Vera zwanzig Jahre älter als er und übergewichtig, und ihre Haut war rissig von den ganzen Ekzemen. Da runzelte seine Frau die Stirn und sah ihn über den Rand ihres Bechers mit heißer Schokolade hinweg an, die sie jeden Abend trank, um besser einschlafen zu können. Sie selbst lief nicht Gefahr, zuzunehmen. Gerade erst hatte sie das Baby abgestillt, und die Kinder hielten sie auf Trab. «Kann schon sein, dass du nichts von Inspector Stanhope willst, aber sie könnte es durchaus auf dich abgesehen haben!» Daraufhin lachte Ashworth, aber der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Manchmal hatte seine Chefin so eine Art, ihn anzustarren, die Lider halb geschlossen, und dann fragte er sich, was sie wohl gerade dachte. Ob sie jemals mit einem Mann geschlafen hatte? Das konnte er sie ja wohl kaum fragen, obwohl sie ihn zuweilen nach sehr persönlichen Dingen ausforschte, bis es fast schon unhöflich war.
    Und jetzt hatte sie ihm die Verantwortung für den Fitness-Club und das Hotel übertragen, während sie sich Richtung Tyne Valley davonmachte, um im Privatleben des Opfers herumzuschnüffeln. Das war überhaupt nicht ihr Job, sie hätte es einem jüngeren Mitglied des Teams überlassen können. Seine Frau legte ihm hin und wieder nahe, sich für einen anderen Posten zu bewerben – wenn schon nicht für eine Beförderung, dann doch wenigstens für eine Versetzung, auch damit er neue Erfahrungen sammelte. An Tagen wie diesen hielt Ashworth das für einen ziemlich vernünftigen Vorschlag.
    In der Lounge des Hotels, die sich schließlich geleert hatte, sprach er mit Lisa, dem jungen Mädchen, das Vera sich als Hilfskraft auserkoren hatte. Mittlerweile waren alle Mitglieder des Fitness-Clubs vernommen und nach Hause geschickt worden, und auf einem großen Schild an der Hoteltür stand, dass der Club «aufgrund unvorhergesehener Ereignisse» für vierundzwanzig Stunden geschlossen sei. Er hatte den Eindruck, dass Vera mit Lisa sehr gedankenlos umgegangen war. Das Mädchen dazu zu bringen, sich die Leiche anzusehen, bloß um sich selbst bei der Identifizierung ein paar Minuten zu sparen – das war unprofessionell und nicht gerade nett.
    Für die Lounge war offenbar eine junge Frau mit polnischem Akzent zuständig. Sie trug ein schwarzes Kleid und flache Schuhe. «Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen?»
    Er fragte Lisa, ob sie einen Kaffee wolle, und als ihr ein Latte macchiato gebracht wurde, zusammen mit ein paar hausgemachten kleinen Keksen, setzte Lisa sich mit vorgebeugtem Oberkörper hin, nahm einen Schluck und legte die Hände um das Glas. Auf ihrer Oberlippe war ein Fleck Milchschaum. Sie musste bemerkt haben, dass er dort hinsah, denn sie wurde rot und wischte den Fleck mit der Serviette weg.
    Die Lounge war eingerichtet wie ein Wohnzimmer in einem der Häuser des
National Trust
, in die Joes Frau ihn immer geschleppt hatte, ehe die Kinder kamen. Ein blank gebohnerter dunkler Holzfußboden, in dessen Mitte ein rechteckiger Teppich lag. Es war ein roter Webteppich, der sich unter den Füßen beinahe ebenso hart anfühlte wie der Fußboden selbst und so ausgetreten war, dass man an einigen Stellen das Muster schon nicht mehr erkannte. An den Wänden Gemälde in großen vergoldeten Rahmen, hauptsächlich Porträts: Männer mit Perücken und Frauen in langen Kleidern. Längs der Wand große, lederbezogene Chesterfield-Sofas und um die Tische mit den zierlichen Beinen Stühle, die mit Chintz bezogen waren. An einem Ende der Lounge gab es einen riesigen Kamin, doch heute brannte kein Feuer, und auch die großen Heizkörper waren abgedreht, sodass man schon beim Eintreten die Kühle verspürte. Über allem hing ein Geruch nach Staub.
    Verstreut auf den Tischen standen die Überreste des Imbisses für die Rentner. Kaffeekannen und Schalen mit Würfelzucker und weißes Porzellangeschirr. Brotstückchen und Krümel waren auf dem Fußboden gelandet. Am anderen Ende der Lounge machte sich eine Frau Mitte vierzig daran, die Trümmer wegzuräumen.
    «Danke, dass Sie gewartet haben», sagte er. Lisas Schicht war mittlerweile bestimmt zu Ende. Sie saßen

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