Seelentraeume
fragte die ältere Frau.
Charlotte nickte. Der Drang war ein gespenstischer ständiger Begleiter aller Heilerinnen. Sie konnten verheerende Wunden zusammenflicken und Krankheiten heilen, aber auch ebenso leicht Schaden zufügen. Doch die destruktive Seite ihrer Magie anzuwenden war streng verboten. »Du sollst niemandem Leid zufügen«, begann der Eid, den die Heilerinnen leisten mussten. Das waren die ersten Worte der ersten Lektion, die Charlotte gelernt hatte, und mit den Jahren hatte sie sie unzählige Male gehört. Es war verführerisch, Leid zuzufügen. Die es darauf ankommen ließen, wurden süchtig danach und verloren sich darin.
»Wird er stärker?«, fragte Lady Augustine.
Charlotte nickte.
»Übe Nachsicht mit dir, dass du ein Mensch bist.«
Was
? Charlotte sah die Ältere an.
Ein schwermütiges Lächeln kräuselte Lady Augustines Lippen. »Ja, meinst du denn, du bist die Erste, die solche Gedanken hegt, Liebes? Unsere Gaben versetzen uns in die Lage zu heilen und zu schädigen. Beides liegt in unserer Natur, doch man erwartet von uns, dass wir unsere eine Hälfte unterdrücken und Jahr für Jahr immer nur heilen. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Glaubst du denn, ich hätte mir nicht vorgestellt, wozu ich fähig wäre, wenn ich meine gesamte Kraft entfesselte? Ich könnte einen Raum voller Diplomaten betreten und das Land in einen Krieg stürzen. Ich könnte Unruhen anzetteln, Menschen zu Mördern machen.«
Charlotte starrte sie an. Von allen Menschen war ihre Pflegemutter die Letzte, der sie derartige Gedanken zugetraut hätte.
»Was du empfindest, ist völlig normal. Und kein Grund für irgendeine Strafe. Du musst viel aushalten, dein Körper und deine Seele sind in der Defensive. Du machst dir dermaßen viel Druck, das macht dich verwundbar. Am liebsten würdest du um dich schlagen, aber du musst deine Magie unter Kontrolle halten, Charlotte.«
»Und wenn ich strauchle?«, fragte Charlotte.
»Straucheln kommt nicht infrage. Du bist entweder Heilerin oder ein Gräuel.«
Charlotte zuckte zusammen.
»Ich vertraue dir. Du kennst die Folgen.«
Und ob sie die kannte. Jede Heilerin kannte die Konsequenzen. Diejenigen, die Leid zufügten, wurden zu Seuchenbringern, verfielen ihrer Magie und lebten nur noch, um Tod und Krankheit zu übertragen. Vor Jahrhunderten, noch auf dem Alten Kontinent, war ein Versuch unternommen worden, die Seuchenbringer als Kriegswaffe einzusetzen. Zwei Heilerinnen waren aufs Schlachtfeld marschiert und hatten ihre Kräfte entfesselt. Keine der Kriegsparteien hatte überlebt, und die Seuche, die sie entfesselten, hatte Monate gewütet und ganze Königreiche vertilgt.
Lady Augustine seufzte. »Das Königreich nimmt uns unseren Familien so jung, weil man uns unterweisen will. Doch trotz dieser sorgfältigen Erziehung bittet man uns nur um eine zehnjährige Dienstzeit, weil unsere Tätigkeit uns verschleißt. Wir geben so viel von uns preis. Wir sind die letzte Hoffnung vieler Menschen und sehen schreckliche Dinge: durch Gewalt beigebrachte Verletzungen, sterbende Kinder, von Trauer zerrissene Familien. Das ist eine schwere Bürde, die nicht ohne Auswirkungen bleibt – auf dich, auf mich, auf uns alle. Zerstören zu wollen ist ganz normal, Charlotte, aber wenn du dem nachgibst, wirst du zur Mörderin. Vielleicht nicht sofort, vielleicht kannst du dich eine Zeit lang beherrschen, doch schließlich wird die Magie dich verzehren und du wirst zu einer tödlichen Landplage werden. Es gibt keine Ausnahme von dieser Regel. Werde kein Gräuel, Charlotte.«
»Nein.« Sie würde die Dunkelheit beherrschen. Sie musste es – ihr blieb schlicht nichts anderes übrig.
Schweigend gingen sie eine Weile weiter.
»Gehen wir vom Schlimmsten aus«, sagte Lady Augustine dann. »Du bist also unfruchtbar.«
Charlottes Herzschlag setzte einen Moment lang aus.
»Das bedeutet noch lange nicht, dass du kinderlos bleiben musst. Es gibt Hunderte Kinder, die geliebt werden wollen. Du kannst kein Kind zur Welt bringen, Charlotte, aber das bedeutet nicht viel, wenn es darum geht, Eltern zu werden. Du kannst trotzdem Mutter werden und die Freude und das Leid der Kindererziehung erleben. Wir setzen viel zu sehr auf Stammbäume und Familiennamen und unsere dümmlichen Vorstellungen vom Adelsstand. Wenn jemand ein Körbchen mit einem Baby darin auf deiner Schwelle abstellen würde, würdest du zögern, es mit hineinzunehmen, nur weil das Baby nicht mit dir verwandt wäre? Schließlich ist es ein
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