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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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»Chaison.« Sie schlugen noch einen Salto, und dann drehte sie den Gasgriff weit auf.
    Fast hätte sie sich bei der Geschwindigkeit verschätzt. Im letzten Moment riss sie das Bike zur Seite, ohne auch nur den Motor zu drosseln. Mit einem Krach, der ihnen durch Mark und Bein ging, prallten sie mit mehr als sechzig Stundenkilometern auf das Wasser; Chaison hatte das Gefühl, sein Rückgrat bohre sich durch die Schädeldecke. Er hatte sich gerade so weit gefangen,
dass er tief Luft holen konnte, als auch schon von allen Seiten die kalte Flut über ihn hereinbrach.
    Er atmete langsam aus, wie man es ihm beigebracht hatte. Tod durch Ertrinken war in Virga eine große Seltenheit ; dennoch hatte Chaison auf der Akademie einen ganzen Lehrgang zu diesem Thema über sich ergehen lassen müssen. Solange er ausatmete, konnte das Wasser nicht in seine Nase eindringen; dafür bildete sich an seiner Wange eine lange Blase, die schließlich abriss und hinter ihm im Dunkeln verschwand. Er presste die Hände an die kalten Flanken des Bikes, hielt den Körper gestreckt und strampelte mit den Beinen. Leider versperrte ihm die Tonne des Jets vollständig den Blick in Fahrtrichtung. Der Lichtstreifen mochte drei Meter oder drei Kilometer weit entfernt sein.
    Wäre der Schein nicht tatsächlich stärker geworden, er hätte kehrtgemacht. Erst nach endlosen Sekunden unterschied er allmählich Formen im zitternden Wasser : fernes Sonnenlicht, das reflektiert und gebrochen wurde, gewölbte Luftflächen, die an Spiegel erinnerten. Ein Bild von überirdischer Schönheit, wie ein gläsernes Modell des Himmels mit glänzenden Kugeln anstelle von Wolken.
    Als er in nur drei Metern Entfernung eine Blase entdeckte, die so groß war wie er selbst, packte er Antaea am Arm und deutete darauf. Sie nickte zustimmend ; die beiden ließen das Bike los, schwammen hinüber zu dem silbrigen Oval und steckten die Köpfe hinein.
    Im Innern einer wabbeligen, mattgrün erleuchteten Kugel sahen sie sich an. Antaea packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und lachte ausgelassen. »Gerade
noch rechtzeitig!«, rief sie. »Ich hätte mir gleich in die Hosen gemacht!«
    Er fand nicht, dass die Situation zu Scherzen Anlass gab, aber ihr Lächeln war ansteckend. »Könnte sein, dass es von den Dingern nicht mehr viele gibt – wir sollten also die Luft nicht mit Reden verschwenden.«
    Â»Wie, hast du so etwas noch nie gemacht? Mit dem Kopf in einer Luftblase in einem See gesessen?« Er sah, dass sie es ernst meinte. »In Slipstream kommen große Wasserkugeln vermutlich nicht so oft vor«, fuhr Antaea fort, »und du bist unter Schwerkraft aufgewachsen, nicht wahr? Wo ich herkomme, war das anders. Die Luft in dieser Blase reicht für etliche Minuten. Wir könnten hier zu Mittag essen.«
    Â»Das Bike driftet uns weg«, gab er zu bedenken.
    Â»Da ist was dran.« Sie begann, in tiefen Zügen zu atmen. »Dann lass uns zurückkehren.«
    Sie streckte ihm die Hände entgegen, er nahm sie, und sie schwammen gemeinsam zum Bike zurück. Als sie mit den Füßen gegen die Blase traten, platzte sie und verteilte Dutzende von Ablegern in der Umgebung.
    Der Lichtschein war jetzt deutlich sichtbar. Er kam von einer schroffen Wand, die sich nach oben und nach unten ins Dunkel erstreckte. Dahinter war es nicht nur hell, man sah sogar eine halbmondförmige Wolke. Aber vor der Wand gab es keine Blasen mehr, die sie hätten nützen können – und der Abstand war groß. Als sie sich hinter dem Bike in Position brachten, warf Chaison Antaea einen Blick zu, und sie zuckte die Achseln. Sie setzten die Schwimmbewegungen fort.
    Schon nach wenigen Sekunden war die Begeisterung über das Abenteuer verflogen, die Antaea ihm vermittelt
hatte. Jetzt erfasste ihn eine neue, physische Verzweiflung, ein empörtes Aufheulen seines Körpers: Atme! Sie war stärker als alles Denken und alle Entschlossenheit. Chaison kämpfte sich auf das Licht zu, aber sein Kopf schwankte haltlos hin und her, und er war sich bewusst, dass er auch die Kontrolle über seine Gliedmaßen verlor. Sie würden es nicht schaffen.
    Antaea versteifte sich und ließ das Bike los. Es drehte sich unter Chaisons Händen, und auf einmal schaute er durch das Ansaugrohr. Dort war, von den Propellerschaufeln eingefangen, eine kopfgroße Luftblase zurückgeblieben. –

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