Segel der Zeit
Natürlich konnte es auch eine kopfgroÃe Blase aus giftigen Auspuffgasen sein, aber das war ihm in diesem Moment egal. Er steckte den Kopf in die Düse und sog die zitternde Kugel ein.
Im nächsten Augenblick war er auch schon wieder drauÃen und hielt mit einer Hand Antaea fest, während er mit der anderen das Bike weiterschob. Die Welt wurde zusehends enger und grauer; am schlimmsten war eine schreckliche Einsamkeit, wie er sie noch nie empfunden hatte. Er hatte nicht gewusst, dass einem Ertrinkenden der eigene Körper zuschrie, er sei von allen verlassen. Es gebe keine Hilfe von auÃen, denn der Tod komme von innen.
Von allen Seiten brach Luft über ihn herein. Chaison richtete einen Schrei nach innen, nahm mit seiner ganzen Kraft einen einzigen Atemzug. Dann zog er Antaea ins Licht und lieà das Bike trudeln, wohin es wollte. Sekundenlang war er völlig mit langen, schluchzenden Atemzügen beschäftigt. Dann wandte er sich Antaea zu.
Ihr Gesicht war erschreckend grau; sie atmete nicht. Er stemmte ihr die Kiefer auseinander und fuhr ihr mit
einem Finger in den Mund. Eine kleine Wasserfontäne spritzte auf. Er erkannte, dass er nicht weiterwusste, die Hilflosigkeit drohte ihn zu überwältigen. Normalerweise brauchte man für eine Herz-Lungen-Wiederbelebung im freien Fall zwei Helfer; der eine war für die Mund-zu-Mund-Beatmung zuständig, der zweite führte von hinten die Herzdruckmassage durch. Chaison hatte gelernt, wo er die verschränkten Finger anzusetzen hatte â in der Mitte des Brustbeins â und wie er den Brustkorb des Patienten gegen seinen eigenen Körper pressen musste. Von vorn war das nicht gut möglich, weil sich der Druck durch den Rücken des Patienten verteilte. Aber diesmal hatte er keine andere Wahl.
Er zog einen Schuh aus, klemmte ihn unterhalb von Antaeas kleinen Brüsten zwischen ihren und seinen Körper und brachte seinen Mund über den ihren. Dann zögerte er.
Er schüttelte seine Bedenken ab. Das war kein Kuss, sondern eine MaÃnahme zur Rettung eines Menschen. Er legte die Arme um Antaea und drückte ihren Brustkorb kräftig zusammen. Gleichzeitig presste er seine Lippen auf die ihren und zwang ihr seinen Atem in die Lungen.
Allen Vernunftgründen zum Trotz war es ein Schock, als er Antaeas Lippen auf den seinen spürte. Er verfluchte sich für seine Schwäche und seine Egozentrik und erneuerte seine Anstrengungen. Der Schuh bohrte sich schmerzhaft in seinen eigenen Solarplexus; hoffentlich konzentrierte sich der Druck bei ihr auf die richtige Stelle.
Bereits nach wenigen Sekunden hustete Antaea schwach und versteifte sich in seinen Armen. Dann bäumte sie
sich auf und nahm einen tiefen, keuchenden Atemzug. Chaison lockerte seinen Griff, hielt aber ihre Arme so lange fest, bis er sicher sein konnte, dass sie ihm nicht einfach davonschweben würde.
Luft ⦠Zum ersten Mal schaute er an ihr vorbei. Ein leerer Himmel, violett und klar, winkte hinter Wassertropfen und Nebelschwaden. Er und Antaea steckten bis zu den Hüften in einer riesigen wogenden Wasserwand, die sich kilometerweit erstrecken musste. Eine ferne Sonne lieà die Szene in vielen Gold- und Rosatönen erstrahlen.
Rechts von ihnen ragte ein grüner Wasserarm, Hunderte von Metern breit und Tausende lang, aus der Hauptflut. Er war gekrümmt, als wollte er nach den diffusen Wolkenbändern in seiner Umgebung greifen. Bizarr gewundene Formen in hellerem Grün und Blau lieÃen erkennen, dass sich unter Chaisons FüÃen riesige Blasen und Kavernen in die Flut gegraben hatten.
Antaea betrachtete das Spektakel verdutzt. »Geschafft! «, stieà sie heiser hervor. »Bike â wo?«
»Hier.« Er drehte sich mit ihr, bis sie es sehen konnte. Die stumpfe Spindel ragte nur wenige Meter von ihnen entfernt aus dem Wasser. Er brauchte lediglich ein paarmal mit den FüÃen zu schlagen, dann waren sie dort. Antaea krallte die Finger so fest um den Sattel, dass die Knöchel weià hervortraten, und gestattete sich ein paar Schluchzer, bevor sie ihren Atem unter Kontrolle brachte.
»Du hast uns rausgebracht«, sagte sie endlich. Er zuckte die Achseln.
»Ich habe im Innern des Bikes noch eine Luftblase gefunden. Die reichte mir gerade für die letzten Meter.«
Sie nickte, wollte etwas sagen, wandte aber den Blick ab. Es war das erste Mal, dass er bei ihr so etwas wie Scheu erlebte. Der Eindruck
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