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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Verständnis zu zeigen. Gewiss, sie waren den Bullen nur knapp entkommen, und vernünftigerweise müssten sie sich bedeckt halten, bis sie Gelegenheit fänden, aus der Stadt zu fliehen. Das war nun nicht mehr möglich. Er hätte seine Anwesenheit nicht deutlicher kundtun können, wenn er dem Regierungssitz der Falken eine Telegrafenbotschaft geschickt hätte. Er hatte ihren mit so viel Sorgfalt ausgearbeiteten Rettungsplan einfach zunichte gemacht.

    Auch mit ihrem Auftrag, in Erfahrung zu bringen, wo sich der Schlüssel zu Candesce befand, war sie gescheitert. Inzwischen müsste sie eingesehen haben, dass sie ihm dieses Geheimnis weder durch Überredung noch durch Folter entreißen konnte. Wo sich die Vernehmungsbeamten der Falken die Zähne ausgebissen hatten, würde auch sie nichts erreichen. Damit hatte sie keinerlei Veranlassung mehr, bei ihm zu bleiben – was also würde sie tun? Er sah keinen Grund, warum sie bleiben sollte; ihre Loyalität gehörte dem Heimatschutz, und soweit er wusste, hatte sie nie den Ehrenschwur geleistet, den er abgelegt hatte.
    Sie wich nicht von der Stelle. »Es tut mir leid«, brachte sie endlich heraus, »aber das war ein bisschen viel auf einmal.« Dann wandte sie den Blick ab.
    Chaison starrte sie an. Diese lammfromme Unterwerfung war das Letzte, was er erwartet hätte. Was in aller Welt könnte sie bewegen, jetzt noch bei ihm zu bleiben? – Er hatte keine Zeit, sich länger darüber Gedanken zu machen. Corbus winkte ihn zu sich.
    Aber er spürte ihren Blick, als er davonflog, und das Gefühl, dass sie ihm etwas verübelte, wovon er nichts wusste, ließ ihn die ganze Nacht über nicht mehr los.
    Â 
    Chaison war umringt von kreischenden Sägen und Arbeiterschwärmen. Einer von den mehr als zwanzig Trupps war dabei, die Straße von den benachbarten Verkehrswegen abzuschneiden, und er hatte sich endlich eine Pause von den Planungssitzungen gegönnt, um dabei zuzusehen.
    Diese Straße befand sich sehr nahe an der Arena und bestand aus Bäumen, die man so miteinander verbunden
hatte, dass sie einen über hundert Meter langen Frauenkörper bildeten. Die Hände umfassten die Hände zweier ähnlicher Skulpturen zu beiden Seiten. Die Arbeiter schnitten nun die Handgelenke durch.
    Chaison runzelte die Stirn. Wohin er auch schaute, überall wurde das Werk von Jahrhunderten zerstört. Einige der Männer und Frauen weinten dabei, und ihre Tränen durchzogen, vermischt mit Sägemehl und abgerissenen Blättern, wie feiner Nebel langsam die ganze Stadt. Und Chaison hatte diesen Kahlschlag angeordnet.
    Er wusste, was der Anblick in ihm auslösen sollte, aber er spürte nichts. Zum Teil lag das natürlich an seiner Erschöpfung; doch er war auch den ganzen Tag schon zerstreut, obwohl er mehr als genug zu tun hatte. Immer wieder stürmten Erinnerungen an wichtige Momente in seinem Leben auf ihn ein. Selbst in den finstersten Zeiten im Gefängnis der Falken hatte ihm der Gedanke, dass er zu Hause wäre , wenn die Wände wie durch Zauberhand verschwänden und er in seine Heimat versetzt würde, ein wenig Trost gespendet. Er mochte vom Dienst suspendiert worden sein, und die Umstände mochten verhindern, dass er sein eigentliches Leben wiederaufnahm; aber das wirkliche Leben war immer noch da draußen und wartete – wenn auch ohne große Hoffnung – auf seine Rückkehr.
    Doch während er jetzt Pläne schmiedete und genau den Fremden, die ihn eingesperrt hatten, Befehle erteilte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich gerade in einem gewissen Sinne von diesem Leben verabschiedete. Sollte er zurückkehren, dann wäre nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Wenn Kestrel ihn für einen Verräter hielt, würden die meisten, wenn nicht sogar
alle seine Landsleute ebenso denken. Das hatte er in Kauf genommen, doch damals war Venera an seiner Seite gewesen, und er hatte sich für stark genug gehalten, um auch den Verlust seiner Heimat zu verkraften. Schließlich hätte er immer noch sie.
    Doch wenn sie ihn nun für tot hielt? Wenn sie erfuhr, dass sein Name unwiderruflich beschmutzt war? Sie war zu sehr Pragmatikerin, und er war zu sehr Realist, um zu glauben, dass sie als Witwe sehr lang allein bleiben würde.
    Vielleicht war sein Schicksal von vornherein besiegelt gewesen. An dem Abend, an dem Chaison seinen allerersten diplomatischen Auftrag

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