Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Kiefern. Der Geruch des Sommers, den Catheline liebte. Sie hielt kurz inne, zog ihren Strohhut tiefer ins Gesicht und musterte das Feld, die wogenden Ähren des Hafers. »Es sieht gut aus, das wird eine ordentliche Ernte«, sagte sie, während sie die Arme in die Seiten stemmte. »Da werden so einige Erntehelfer zum Einsatz kommen.«
Mathis legte seine Hand auf ihre Hüfte und schob sie weiter. »Ja, aber jetzt gehen wir erst einmal zur Messe. Heute ist Sonntag.«
»Ja, sicher, aber dann wartet wirklich viel Arbeit auf uns.«
»Auf uns?«
»Ja, auf dich und auf mich.«
»Du weißt, dass der Mann, mit dem du die Ernte einholen willst, sein Leben einer alten Frau verdankt?«
Catheline lächelte nur und schlenderte weiter.
»Warst du schon mal auf Pilgerreise?«, fragte Mathis unvermittelt.
»Du weißt, dass ich noch nie auf Pilgerreise war.«
»Wollen wir nach Saint Malo ins Kloster Mont Saint Michel pilgern?«
»Aber was ist mit der Arbeit?«
Mathis zuckte die Schultern. »Einmal im Leben sollte jeder auf Pilgerreise gehen. Andere Bauern erfüllen sich diesen Wunsch auch, ziehen im Spätherbst los, wenn die Ernte eingebracht ist. Ich bin sicher: Mithilfe der anderen werden wir gehen können.«
Er hat recht, dachte Catheline. Es ist so viel geschehen, es würde uns guttun, um Vergebung der Sünden zu bitten, die wir auf uns geladen haben, und es ist Zeit, Gott zu danken.
In ihrem Kopf erwuchs ein Bild: Martin würde sicherlich auf Mathis’ Hof nach dem Rechten sehen, wobei ihm Eves Söhne, Pierre und Marcel, zur Hand gehen könnten. Und dann wäre da noch Blanche, die sich um Vater Jeunet kümmern könnte. Die mit ihm vor der Pfarrei stehen und Mathis und ihr zum Abschied zuwinken würde.
»Saint Malo«, wiederholte sie bedächtig Mathis’ Worte und horchte auf deren verlockenden Klang. »Wo ist das?«
»Irgendwo am Meer. Vor Hunderten von Jahren erschien der Erzengel Michael Bischof Aubert im Traum und befahl ihm, eine Kirche ins Meer zu bauen. Und das hat er getan. Heute thront auf den Granitfelsen eine der größten Abteien Frankreichs,umtost vom Meer. Es soll ein unvergesslicher Anblick sein: Die Kirche Mont Saint Michel und das Meer, das so weit reicht, wie das Auge blicken kann, so weit, dass es den Himmel berührt.« Mathis trat näher und nahm ihre Hand. »Wollen wir das machen?«
Catheline nickte.
Ja, das wollte sie.
Mit Mathis das Meer sehen, das den Himmel berührt.
ENDE
Anhang
Der geschichtliche Hintergrund
Die Bretagne – das Land am Ende der Welt. Mit diesen Worten wird die im Nordwesten Frankreichs gelegene Halbinsel mit ihrer gut 2700 Kilometer langen Atlantikküste bereits im Mittelalter beschrieben.
Um 1440 ist die politische Situation in der Bretagne seit mehreren Jahren stabil. Herzog Johann hat es geschafft, durch wechselnde Koalitionen den Landstrich zu befrieden und die Unabhängigkeit des Herzogtums zu bewahren. Der Bretagne geht es wirtschaftlich gut. In Anbetracht der Tatsache, dass Frankreich seit gut einhundert Jahren von einem Erbfolgekrieg gebeutelt wird, in dem England versucht, einen Anspruch auf den französischen Thron durchzusetzen, eine Ausnahme im Land.
Als ein Wendepunkt in dem immer wieder aufflackernden Konflikt zwischen Frankreich und England, der später unter dem Begriff »Hundertjähriger Krieg« in die Geschichte eingehen wird, kann sicherlich das Auftauchen Johannas von Orléans gewertet werden. 1429 gelingt es ihr, Karl VII. nach Reims zu führen, wo er zum König von Frankreich gekrönt wird.
Doch 1430 wird Johanna von Orléans durch Burgunder – das Herzogtum Burgund steht zu diesem Zeitpunkt aufseiten der Engländer – festgenommen und an England ausgeliefert. 1431 wird sie hingerichtet.
Aber auch nach ihrem Tod bleibt Frankreich erfolgreich in den Auseinandersetzungen gegen die Engländer, selbst das Herzogtum Burgund gibt 1435 mit der Unterzeichnung des »Friedens von Arras« sein Bündnis mit England zugunsten des französischen Königs auf.
Die Kriegsführung hat sich zu dieser Zeit massiv geändert, denn inzwischen kommen in den Schlachten hauptsächlich Söldner zum Einsatz. Ungefähr ab 1435 werden diese zu einem schwerwiegenden Problem in Frankreich, da sie, durch eine Friedensphase überflüssig geworden, demobilisiert durchs Land ziehen und plündern.
König Karl VII. setzt sich für eine Heeresreform ein und beginnt, das erste stehende Heer aufzubauen. Die Adeligen des Landes fürchten um ihr Kriegsrecht – das Recht, selbst
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