Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Schneeflocken und Schweißperlen von der Stirn. Er schaute über die Steine, die, von den Feldern geklaubt und zu kleinen Wällen aufgeschichtet, die rechter Hand liegenden Felder säumten. Verborgen unter der Schneedecke, deren obereSchicht vom Wind in feinen Wirbeln umhergeschoben wurde, schienen sie auf den Frühling zu warten.
»Gestern habe ich vom Frühling geträumt«, sagte Catheline in das Jammern des Windes hinein. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist auch dieser Winter endlich vorbei.«
Mathis zuckte mit den Schultern. »Ja, und? Was ist daran besser?«
»Dann säen wir aus, bestellen die Felder, genießen die wärmende Sonne und freuen uns auf den Mai.«
»Wir?« Mathis’ Augenbrauen bildeten einen dunklen Bogen, der über seiner Nase fast zusammentraf. »Wie soll ich denn die Felder bestellen?« Er stieß den Treibstecken in den Schnee und lief weiter.
»Warte ab. Lass dir ein wenig Zeit, schone dich noch, und dann wirst du auch die Felder wieder …«
Mathis fuhr herum, die Wut verzerrte sein Gesicht. »Das Bein ist längst ausgeheilt. Ich bin ein Krüppel! Ein von Gott verdammter Krüppel! Wie soll ich meine Felder bestellen? Es ist für mich vorbei. Wann willst du das endlich einsehen? Dieser übel riechende Sud, all das Reiben und Kneten, das nützt nichts mehr. Verstehst du?«
Um sie herum wirbelten die Schneeflocken, so dicht, dass nicht einmal das sonst weithin sichtbare Schloss Troyenne auszumachen war. Der dahinjagende Wind zerriss die Atemwolken, die im Grauweiß des Himmels verschwanden.
»Du brauchst nicht auf Gott zu fluchen, danke ihm lieber, dass du noch lebst. Und ich werde weiterhin mit dem übel riechenden Sud alles daran setzen, dir zu helfen. Auch wenn ich nichts mehr auszurichten vermag, habe ich es wenigstens versucht«, sagte Catheline und schluckte gegen den Druck in ihrem Hals an. Wann wirst du endlich begreifen, dass ich dich auch wollte, selbst wenn beide Beine dich nicht mehr tragen,dachte sie und hielt seinem Blick stand. »Und auch wenn dein Bein lahm bleibt, du warst immer Bauer, du bist noch immer Bauer, und du wirst es weiterhin sein.«
Mathis verzog den Mund, und die Bitterkeit, die in dieser Bewegung lag, entstellte das Gleichmaß seiner Züge.
In Catheline loderte Wut auf, die augenblicklich die Kälte aus ihren Gliedern vertrieb. »Wenn ich könnte, würde ich Gott bitten, für dich ein elftes Gebot in Stein meißeln zu lassen. Es würde heißen: Du sollst nicht selbstmitleidig sein!« Deutlich hatte Catheline den schnellen Schlag seiner schneenassen Wimpern gesehen. Doch noch hatte sie nicht genug, der Drang, ihn herauszufordern, war zu groß. »Denn«, setzte sie nach, »das Selbstmitleid ist ungerecht und führt dich von Gott weg. Es steht in seiner Sündhaftigkeit dem Laster der Eitelkeit in nichts nach.« Die Zornesfalte auf Mathis’ Stirn war eine Reaktion, eine kleine, aber sie genügte, um die Hitze ihrer Wut einer gehässigen, warmen Zufriedenheit weichen zu lassen.
»Hüte dein loses Mundwerk, sonst wird es dir irgendwann noch zum Verhängnis«, sagte Mathis, so leise, dass der Wind seine Worte fast ungehört mit sich genommen hätte.
Mathis sah Pfarrer Jeunet schon von Weitem. Der alte Mann wartete, gestützt auf seinen Gehstock, vor dem Portal der Dorfkirche und trotzte der Kälte, um jedem zur Begrüßung die Hand zu reichen. Viele Mitglieder der Gemeinde Saint Mourelles hatte er in den Jahrzehnten, die er in Amt und Würden war, verloren: an zahlreiche Kriege, umherziehende Söldner, die das Land verwüsteten, an die Pest und den oftmals wütenden Hunger nach schlechten Ernten.
Catheline begrüßte Pfarrer Jeunet und schob die Kapuzeihres Umhanges zurück. Mathis wandte sich ab. Er wollte nicht sehen, dass die Schneeflocken, die sich in ihrem Haaransatz verfangen hatten, zu silbrigen Tropfen geworden waren. Das gewellte haselnussbraune Haar, das bis zur Hüfte reichte, wenn sie das Band des geflochtenen Zopfes denn einmal löste. Er schob den Gedanken an den warmen Sommertag beiseite, an dem sie ihr Haar geöffnet hatte und er darin versunken war. Eine Erinnerung an vergangene Zeiten, die im Hier und Jetzt keine Bedeutung mehr hatte. Die keine mehr haben durfte.
»Mathis! Mathis, ich bin ganz schnell gerannt.« Avels Wangen waren vom Laufen in der Kälte gerötet, und der Rotz lief ihm aus der Nase. Der baumlange Kerl umarmte und presste sich an Mathis, dass ihm der Treibstecken aus der Hand glitt. Avel senkte die Stimme: »Und
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