Sehnsucht FC Bayern
sondern stehe und immer wieder auf und ab gehe. Wem sollte ich denn meine derart nervige Anwesenheit zumuten?
Im Stadion ist das anders. Man hat einen besseren Überblick und ahnt manches bereits zeitiger und realistischer einzuschätzen als bei ungeschickter Kameraführung vor dem Fernseher. Außerdem will man sich ja gegenüber Fremden wenigstens noch ein Mindestmaß an Contenance bewahren. Aber allein vor dem Fernseher? Da habe schon öfters laut die halbe Mannschaft während der Begegnung an die Konkurrenz verkauft. Allein sein bedeutet im Falle eines Misserfolges auch, auf die ausnahmslos untauglichen Versuche tröstender Worte von Dritten nicht verzichten zu können, ja regelrecht zu dürfen. Bei wirklich schlimmen Niederlagen will ich auch weiterhin allein sein. Ganz allein.
So eine Situation drohte auch beim bereits erwähnten Endspiel um den DFB-Pokal 1984. Hatte mich das legendäre 6:6-Halbfinale auf Schalke vor dem Radio nicht schon genug Nerven gekostet? Ich fürchte, ja, denn ich konnte nicht mehr länger mit ansehen, wie der FC Bayern dem Führungstreffer des Gladbachers Frank Mill hinterherlief. Ich machte den Fernseher aus und verharrte einige Minuten im Fernsehsessel in der vagen Hoffnung, dass sich im Frankfurter Waldstadion zwischenzeitlich die Situation für uns gebessert haben könnte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und sah im wiedereingeschalteten Fernseher jubelnde Bayern. Wolfgang Dremmler hatte zum 1:1 getroffen. Mein »Rezept« hatte sich auf Anhieb bewährt. Das erste Elfmeterschießen in einem DFB-Pokalfinale brachte schließlich die glückliche Entscheidung für den FC Bayern.
Ich hasse Elfmeterschießen. Dieses ständige Wechselspiel zwischen »Bitte versenk ihn« und »Bitte halte ihn« lässt in Wirklichkeit keine Sekunde Zeit zum Durchatmen. Ich bin mir bis heute nicht sicher und denke seitdem darüber nach, ob es wirklich besser ist, wenn eine Mannschaft den ersten Schützen stellt. Im Erfolgsfall vorzulegen, ist ja schön und gut. Aber welche Sicherheit ergibt sich erst für den Schützen der anderen Mannschaft, wenn sein gegnerischer Kollege zuvor versagt hat? Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden. Was ich aber weiß, ist, dass das mit Fußball nichts mehr zu tun hat. Die Entscheidung fällt durch einen zehnmaligen nervlichen Belastungstest. Wenn mir im Fußball eine Regeländerung möglich wäre, dann würde ich das Elfmeterschießen abschaffen. Ein Penalty bzw. shoot-out, wie beim Eishockey oder früheren american soccer, also dass ein Spieler allein auf das gegnerische Tor zuläuft und nur den Torwart vor sich hat, scheint mir doch wesentlich näher am eigentlichen Spielgedanken zu sein.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
1984/85
V OR VERSCHLOSSENEN T ÜREN
Nachdem Pal Csernai als Bayern-Trainer gescheitert war und auch der Zwei-Spieltags-Trainer Reinhard Saftig nur eine Übergangslösung darstellte, kam es ja bereits ein Jahr zuvor zum Comeback von Udo Lattek auf der Trainerbank. Okay, man hat mich bei dieser Personalentscheidung natürlich nicht gefragt, aber ich habe sie trotzdem begrüßt. Udo Lattek war für mich, und so viel wusste ich bereits, als ehemals äußerst erfolgreicher Bayern-Trainer ein Fixpunkt in der Vereinsgeschichte. Allein schon deshalb freute ich mich auf seine Rückkehr.
Fußballfans haben ja fast immer einen Hang zur Nostalgie. Das ergibt sich wahrscheinlich schon deshalb, weil es sich beim Fußball um ein Thema und eine Leidenschaft handelt, die sie zeitlebens begleitet. Über all diese Jahrzehnte wandelt sich vieles. Es gibt Regelveränderungen, Strukturreformen, neue Wettbewerbe, Ausrüsterwechsel, Taktikneuheiten und so weiter. Und ab und zu kommt es zu einem Déja-vu-Erlebnis. Udo Lattek war so eines.
Ich gebe zu, ich mag es, wenn ehemalige Spieler oder Trainer ihre Karriere beim FC Bayern nach einem Zwischenstopp fortsetzen. Für mich ist das ein sichtbares Zeichen von Kontinuität. Zeigt es mir doch, dass man durchaus mal auf Altbewährtes in der Vergangenheit wieder zurückgreifen kann. Andere nennen so etwas konservativ. Lattek war ja beileibe nicht der einzige Trainer mit zwei Amtsperioden in München. Trapattoni und Hitzfeld sowie Lerby und Klinsmann als ehemalige Spieler taten es ihm gleich. Eine entsprechende Auflistung von Spielern wäre an Rückkehrern noch umfangreicher. Es ist auch das, was diesen Verein ausmacht: Tradition bedeutet beim FC Bayern ganz wesentlich auch
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