Sehnsucht FC Bayern
sondern maßgeblich auf das spektakuläre Eigentor von Helmut Winklhofer zurückging. Ich war perplex. Wie konnte man aus 33 Metern mit dem Schussbein dermaßen weit ausholen, dass man damit gleich den eigenen Keeper überwand? Der Treffer wurde prompt zum »Tor des Monats« gewählt. Uli Hoeneß war angefressen und betrachtete die Wahl als Affront.
Ich war ebenfalls stocksauer. Mit 17 Jahren brachte ich nun wirklich noch nicht die nötige Souveränität auf, um mit solchen Situationen elegant umzugehen. Kritik und Häme am FC Bayern nahm ich seinerzeit persönlich und verdarben mir, genau wie die frische 1:0-Niederlage in Uerdingen, komplett den Abend. Wie ich schon erzählte, bleibe ich auch beim höchsten Rückstand zwar bis zum Schlusspfiff an meinem Platz, verlasse aber bei einer Niederlage dann augenblicklich das Stadion. Da meine Mutter direkt gegenüber der Grotenburg-Kampfbahn im Auto auf mich wartete, waren wir doch tatsächlich pünktlich zur Sportschau wieder zu Hause in Bergisch Gladbach, wo ich mir den Fauxpas Winklhofers gleich noch einmal anschauen konnte.
Zu wissen, dass mein Verein verloren hat, und sich dies dann zum wiederholten Male auch im Fernsehen anzuschauen, empfinde ich immer als etwas masochistisch. Egal wie die Niederlage zustande kam. War sie unglücklich, macht mich das noch depressiver. War sie verdient, ärgere ich mich umso mehr. Es gibt ungezählte Bayern-Niederlagen, deren Fernsehbilder ich nicht kenne, weil ich auf die Aufzeichnung bewusst verzichtet habe. Da reichte mir der Stadionbesuch völlig, und bei mir macht sich dann eine »Schnauze-voll-Mentalität« breit.
Noch schlimmer war es mit mir vor dem Fernseher, wenn ich das Ergebnis nicht kannte. So etwas konnte ja aufgrund familiärer Verpflichtungen ohne SMS-Dienste, Videotext oder Internet durchaus mal vorkommen. Damals jedenfalls. In solchen Fällen wurde die Sportschau zur Tortur. Wenn dann vom Bayern-Spiel berichtet wurde, was ja vergleichsweise häufig, aber längst nicht immer vorkam, dann habe ich jedes Wort, jeden Tonfall des Reporters überinterpretiert. Bemerkungen wie »eine gute Leistung in Halbzeit eins« ließen doch eigentlich gar keinen anderen Schluss zu, als dass es in der zweiten Halbzeit schlechter werden würde. Oder gar bei einem Ein-Tore-Vorsprung: »Das Spiel schien bereits gelaufen – jetzt aber – eine letzte Flanke in den Bayern-Strafraum …« Das sind Momente, in denen ich mich im Fernsehsessel festkralle. Ergebnisse von Bayern-Spielen, die ich nicht live verfolgt habe, möchte ich so kurz und schmerzlos erfahren wie nur irgend möglich. Das ist wie mit einem alten Pflaster, das noch an der Haut klebt. Das reiße ich auch nicht in Zeitlupe ab.
Mittlerweile konnte ab Sommer 1985 auch meine Schullaufbahn wieder als geordnet bezeichnet werden. Unbewusst gerade noch rechtzeitig, bevor es mit mir als Bayern-Fan so richtig losging. Die Jahre zuvor war es doch recht turbulent, und die jeweilige Versetzung in die nächsthöhere Klasse glich einem Abstiegskampf bis zum letzten Spieltag. Als »unabsteigbar«, wie einst der VfL Bochum, konnte ich mich nicht rühmen. Im Gegenteil. Ein Vergleich mit dem 1. FC Nürnberg als Rekord-Absteiger trifft die Sache dabei deutlich auf den Kopf. Wenn Sie jemals ein schlechtes Zeugnis gesehen haben, dann denken Sie daran, dass es auch nach unten hin immer noch Steigerungsmöglichkeiten gibt.
Nach dem umzugsbedingten Besuch von gleich drei Gymnasien konnte das erneute Wiederholen der 9. Klasse nur durch einen Wechsel der Schulform vermieden werden, da eines meiner mangelhaften Fächer dort nur Wahlfach war. Und so landete ich für ein Jahr auf der Realschule, machte dort aber – das sei hier zu meiner Ehrenrettung erwähnt – einen recht respektablen Abschluss. Ich gehöre zu den so genannten geburtenstarken Jahrgängen, die Mitte der achtziger Jahre den Lehrstellenmarkt regelrecht überfluteten. So viele Schulabsolventen gab es anschließend in Deutschland, selbst nach der Wiedervereinigung, nie mehr wieder. Die Unternehmen konnten sich, fast branchenunabhängig, die jeweils besten Absolventen aussuchen. Gärtnerlehrling mit Abitur? Solche Beispiele kannte ich. Und da sollte ausgerechnet ich mit meinen katastrophalen Noten punkten? Es war schier aussichtslos.
Ich bewarb mich »auf Teufel komm raus« und absolvierte mangels beruflicher Perspektiven die unterschiedlichsten Einstellungstests und Auswahlverfahren. Vom Werkzeugmacher bis Industriemechaniker war alles
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