Sehnsucht FC Bayern
Bochum. Ich wurde zum Bahnfahrer. Und bis heute scheint mir das die ursprünglichste Form des Reisemittels für einen Fußballfan zu sein. Man ist von Beginn an mitten drin im Geschehen, trifft jede Menge interessante Fans, versteckte aus Furcht immer mal wieder den Bayern-Schal, zwinkerte anderen, alleinreisenden Bayern-Fans verschwörerisch zu und baute mit jedem Kilometer Gleis ein wenig mehr Spannung auf. Rückblickend betrachtet bin ich eigentlich viel zu selten mit dem Zug angereist. Mit dem Auto war es zugegebenermaßen nicht nur bequemer, sondern meist auch schneller und billiger. Sehr viel später bildete mal die Fahrt zum Champions-League-Qualifikationsspiel mit dem Nachtzug über Wien und Budapest nach Belgrad 2002 ein unerwartetes Revival.
1984 ging es jedoch zunächst einmal nur bis Düsseldorf. Ein Freitagabend. Im Regen suchte ich auf dem dunklen Bahnhofsvorplatz nach Orientierung und Anschlussmöglichkeiten zum Rheinstadion. Diese fand ich dann auch in Form einer übervollen Straßenbahn, in der ich patschnass und bisweilen nach Luft ringend durch die Landeshauptstadt schaukelte. Die Eintrittskarte hatte ich mir – natürlich im Vorverkauf – durch Anruf bei der Fortuna-Geschäftsstelle und Zusendung von Bargeld gesichert. Die, nun sagen wir mal, fröhliche Art der Fortuna-Fans auf dem Hinweg setzte sich im Stadion fort. Ihre Mannschaft gewann klar mit 4:1. Was für ein Debakel. Unfreiwillig lernte ich somit frühzeitig, was es heißt, bei hohen Niederlagen einen mühsamen Heimweg anzutreten. Allein unterwegs kommt man aus dem Grübeln kaum noch heraus.
Dennoch fand ich meine Situation auf unerklärliche Weise faszinierend. Nachts, allein auf einem fast leeren Bahnsteig, in einer fremden Stadt und mit der drückenden Last von vier Fortuna-Gegentreffern. Wenn es nicht so furchtbar kitschig wäre, würde ich hier das Bild vom einsamen Wolf im fremden Revier bemühen. So aber war ich nur hungrig wie ein Wolf, weil mir das Taschengeld ausgegangen war. Ich wartete auf einen Nachtzug zurück in die Domstadt. Diese Fahrt unternahm ich nicht allein. Es gibt Situationen, und dies war eine solche, da sucht man durch Kontakt zu Gleichgesinnten Trost. Ich gesellte mich zu einem einsamen, etwas älteren Bayern-Fan, der seinen Frust offenbar bereits im Altbier ertränkt hatte. Er freute sich, in mir einen wissbegierigen Jungspund gefunden zu haben, und erzählte mir von diversen Hauereien zwischen rivalisierenden Fangruppierungen auf bundesdeutschen Bahnhöfen. Er natürlich mittendrin. Seine Schlachtenschilderungen waren etwas wirr, und sein breiter, bayerischer Dialekt machte es mir nicht leichter. Für rheinische Ohren ist diese Mundart ohnehin schon gewöhnungsbedürftig. Gelallt entwickelt sie sich fast vollends zur unverständlichen Phonetik. Ich hörte ihm mit großen Ohren konzentriert zu, nickte immer wieder verständnisvoll und dachte insgeheim bei mir: Was für eine arme Sau – bei diesem Heimweg.
Mit mittlerweile vier Bayern-Spielen in der Saison sah ich mich inzwischen auf einem guten Weg. Daran änderte auch nichts, dass wieder einmal auch das Gastspiel beim 1. FC Köln verloren ging. Dafür verbuchte ich den 5:1-Auswärtssieg in Leverkusen als ganz persönlichen Erfolg. Ich entdeckte mich nämlich abends, im Spielbericht des Aktuellen Sport-Studios, wie ich in Leverkusen gerade wild-wedelnd meine Bayern-Fahne zur Geltung brachte. Fünf Niederlagen in nun mittlerweile 14 Spielen. Ist das ein Erfolgsfan?
Die Saison endete mit einem Elfmeter. Und wenn ich sage, dass dieser von Michael Rummenigge verwandelt wurde, dann ist man als Bayern-Fan gedanklich sofort beim Pokalfinale 1984. Ich erlebte das Endspiel allein vor dem Fernseher. Das gilt unverändert bis heute. Bei äußerst wichtigen Entscheidungen, und sofern ich ausnahmsweise mal nicht live im Stadion bin, will ich vor dem Fernseher alleine sein. Eine gefühlte Einsamkeit, wie seinerzeit nachts auf dem Bahnsteig im Düsseldorfer Hauptbahnhof. Zu peinlich sind mir gegenüber Dritten meine Gefühlswallungen, die sich in Zuckungen und Verrenkungen bei vergebenen Torchancen und in unflätigen Flüchen bei technischen Fehlern oder Unkonzentriertheiten entladen. Nicht dass ich etwa geistig oder gar körperlich mitspiele, was man ja bisweilen so von anderen hört, aber eine Fernsehübertragung kann für mich tatsächlich anstrengend sein. Das geht so weit, dass ich bei einer knappen Führung die letzten Minuten vor dem Fernseher nicht mehr sitze,
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