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Sehnsucht nach Leben

Sehnsucht nach Leben

Titel: Sehnsucht nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaeßmann
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strafen wollen. Jesus zeigt uns Gott nicht als den drohenden alten Mann, sondern als den Liebenden, der Menschen ansieht und so jeden Einzelnen zu einer im wahrsten Sinne des Wortes angesehenen Person macht. Es gehe nicht darum, „who we are“, sondern darum, „whose we are“, hat ein amerikanischer Prediger einmal gesagt. Nicht, wer wir sind, sondern zu wem wir gehören, ist entscheidend.
    Wenn wir Gott so wahrnehmen – als den uns zugewandten, liebevollen Gott, der zugegen ist, wo Menschen leiden –, dann bekommen wir auch eine ganz andere Wahrnehmung des Kreuzes. Es ist gerade nicht ein Zeichen des Triumphalismus, der mit dem Kreuz immer wieder einherging. Nein, der Gott, der ans Kreuz geht, ist kein triumphalistischer Gott. Es ist der Gott, der die Sehnsucht der Menschen nach Nähe gerade da stillt, wo sie leiden. Es ist der Gott, der mich begleitet, wenn ich nicht weiterweiß.
    Aber wie merke ich, dass Gott gegenwärtig ist? Wo erfahre ich Gott? Wenn ich nach biblischen Antworten auf diese Fragen suche, dann ist eine meiner liebsten Erzählungen die von Elia, der erschöpft ist und vor Gott fliehen möchte. Er ist müde, er kann nicht mehr, selbst als der Engel ihm sagt, er solle essen und trinken. Und so sucht er Stille und Rückzug in einer Höhle. Im 1. Buch der Könige wird davon berichtet, dass Gott ihm dann begegnen will, um ihm eine neue Perspektive aufzuzeigen. Aber diese Begegnung verläuft ganz anders, als wir annehmen würden: „Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle“ (1. Könige 19,12–13).
    Gott im Säuseln, in ganz leisen Tönen – das ist eine wunderbare Beschreibung einer Gotteserfahrung, finde ich. So unterscheidet sich das Gottesbild schon im hebräischen Teil der Bibel von all diesen Bildern vom gewalttätigen Donnergott, die sich bis in Hollywoodfilme gemogelt haben. Sanft, zart, zuwendend, so erlebt der Prophet Gott. Leise, sodass wir wirklich hinhören müssen. Wie ein Adler, unter dessen Flügeln wir Schutz finden vor allen Gefahren, Ängsten, Herausforderungen unseres Lebens. All diese furchtbar machtorientierten Gottesbilder werden damit infrage gestellt. So wie Jesus am Kreuz stirbt und am Ende sagen kann: „Meinen Geist befehle ich in deine Hände“, so hat Elia Gott als den erfahren, der ihm im Säuseln begegnet, der leise zu ihm spricht und ihm Mut macht, den nächsten Schritt zu gehen, hinaus aus der Höhle, hinaus in die Welt.
    Als ich an einer Veranstaltung mit dem Dalai Lama teilnahm und etwas kritisch anmerkte, dass Lächeln allein nicht die Antwort sein könne, erhielt ich viel kritische Resonanz. Jemand sagte, er wolle keiner Religion angehören, die auf einen Opfertod gegründet sei. Ihm sei eine positive Religion lieber. Als ich dem Neu-Buddhisten daraufhin erzählte, als wie befreiend und behütend ich meinen Glauben empfinde, konnte er mir nur schwer folgen. Immer wieder kamen Begriffe wie „Opfer“ und „Blutzoll“. In der Tat: Christinnen und Christen müssen nicht nach einem „Markenzeichen“ in dieser Welt suchen. Das Kreuz ist ihr Markenzeichen. Es ist aber eben nicht einfach ein Symbol für Leid und Opfer, sondern das Symbol der Hoffnung, dass Gutes das Böse überwinden wird. Es ist ein Zeichen dafür, dass noch im tiefsten Leid Gottes Nähe spürbar ist. Es ist ein Leitfaden dafür, dass Gott in der Schwachheit stark ist, dass wir Gott gerade da finden, wo das Leben zerbrechlich ist.
    Das Kreuz, das aus dem Chaos des Lebens heraus Orientierung gibt, ist deshalb ein wunderbares Bild von Münch. Nein, nicht triumphalistisch, sondern in dem vollen Bewusstsein der Tiefen und Dunkelheiten des Lebens. Und doch so etwas wie ein Leuchtturm, der auch in Untiefen und großen Wellen einen Weg zeigen kann.
    Die Sehnsucht nach Gott lässt sich stillen, wenn wir die Frage nach Gott zulassen und uns dann hineinfinden in die großen Erfahrungen des Glaubens, von denen die Bibel erzählt. Gott im Säuseln bei Elia. Gott als der liebende Vater im Evangelium. Gott finden wir da, wo wir uns aufmachen, Kranke zu besuchen, Gefangenen beizustehen, Trauernde zu trösten. Wann immer wir Menschen deutlich machen, dass

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