Sehnsucht nach Leben
Gottesbild! Gott als tröstende Mutter ... Gott nimmt mich in die Arme mit all meinem Kummer, meiner Einsamkeit, mit all meiner Verzweiflung und mit all meinen Fragen. Ich darf weinen um meine Verluste, kann schluchzen, erzählen, meinem Jammer freien Lauf lassen. Und werde nicht verurteilt, nicht beurteilt, muss mich nicht zusammenreiÃen, sondern darf einfach jetzt so sein. Jeder Mensch auf dieser Welt wird begreifen, was das heiÃt. Auf diese Weise getröstet zu werden, das bleibt wohl eine lebenslange Sehnsucht. So wie die Mutter, die das Kind in den Arm nimmt, das sich verletzt hat. Wie der Vater, der tröstet, wenn die Schulklausur danebengegangen ist. Wie die Mutter, die die Tochter beim ersten Liebeskummer in den Arm nimmt. âKomm erst einmal her und lass dich trösten.â Das heiÃt auch, ich muss nicht gleich Lösungen finden, es ist jetzt nur Zeit für liebevollen Trost. Das Kind weiÃ, es ist angenommen, gehalten, mit allen Fehlern und aller Verletzung.
Danach sehnen wir uns auch als Erwachsene: dass uns jemand hält und trägt. Und doch erleben wir so oft Enttäuschungen. Je älter Menschen werden, desto weniger wagen sie es wohl, solchen Trost zu erbitten, zu erhoffen, sich einfach fraglos fallen zu lassen. Da ist dann eher Selbstkontrolle angesagt: âReià dich zusammen!â Oder die Attitüde: âIch schaff das schon!â Wer Trost braucht, zeigt Schwäche. Und eine solche Schwäche ist in einer Gesellschaft, die auf Stärke und Leistungsfähigkeit setzt, nicht angesagt. Wer könnte denn zu seinem Arbeitgeber kommen und sagen: âIch brauche Trost!â Schon in der Nachbarschaft wäre das mancherorts schwierig. Trost suchen heiÃt: âIch habe Kummer, ich leide, ich schaffe es nicht allein. Ich brauche euch anderen.â In einer solidarischen, liebevollen Gemeinschaft wäre dafür Raum â Raum für Gefühle wie Angst, Trauer und Verlust, die in unserer Gesellschaft so einsam machen. Und wie menschlich, überzeugend, hinreiÃend, erstrebenswert wäre eine Gesellschaft, die trösten kann!
Der Engel mit seinem gebrochenen Flügel von Eberhard Münch rührt mich bei diesen Gedanken ganz besonders an. Geradezu erstaunt scheint er, dass dieser Flügel gebrochen ist. Sein Leben, das eigene Sein, die Engelexistenz sind offenbar verwundet. Das Rot zeigt auf nahezu brutale Weise die Bruchstelle. Nichts ist mehr heil oder ganz. Er wirkt so verletzt, so untröstlich â vielleicht auch, weil er keinen Trost spenden kann. Trösten können wir ja gewöhnlich aus einer Position der Kraft, der Stärke heraus. Es ist schön, trösten zu können â weil ich so geben kann und auch weil ich weiÃ, jemand vertraut sich mir so ganz und gar an.
Wer hingegen Trost braucht, befindet sich immer in einer ungeschützten Lebenslage. Es sind die groÃen Verletzungen der enttäuschten Liebe, der verlorenen Lebenschance, der ungetrockneten Tränen, der Krankheit, des Todes, die uns einsam machen. Es sind die gebrochenen Herzen, die geplatzten Träume, die verlorenen Hoffnungen, die unerfüllten Pläne in jedem Leben. Gebrochen. Zerbrochen. Das ruft die tiefe Sehnsucht nach Trost in uns wach.
Was aber das menschliche Auge als Sackgasse oder Scheitern sieht, kann das Auge des Glaubens als Lebenstiefe erkennen. Die Welt ist eben kein perfekter Ort und Menschen sind nicht fehlerfrei. Das Leben ist nicht makellos. Genau da tröstet uns Gott: âDein Leben ergibt Sinn, auch wo du mit Angst und Verlust kämpfen musst.â Glaube kann trösten. Nein, nicht ver trösten auf ein vermeintlich besseres Jenseits. So wird Glaube ja oft dargestellt: als ein Notnagel für Menschen, die sich vor dem Tod fürchten. Das âOpium des Volkesâ sozusagen, mit dem Menschen sich selbst betäuben, um die Welt besser ertragen zu können. Aber Glaube führt in letzter Konsequenz gerade eben nicht zu einer Art Weltflucht. Er vertröstet nicht auf ein besseres Jenseits, um sich mit den Ungerechtigkeiten der Welt abzufinden. Stattdessen hat er eine radikale Freiheit im Gepäck â die Freiheit, sich in die Gesellschaft einzumischen, klar einzutreten für Gerechtigkeit schon in dieser Welt, weil nur so eine Spur von Gottes zukünftiger Welt gelegt wird. Weil die Todesangst überwunden ist, entsteht eine radikale Freude am Leben, die dafür streitet, dass Menschen das
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