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Sehnsucht nach Leben

Sehnsucht nach Leben

Titel: Sehnsucht nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaeßmann
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Leben in Fülle haben. Alle Menschen, nicht nur eine Elite der Menschheit.
    Als ganz besonders trostreich haben viele Menschen ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer empfunden. Er schreibt in „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ davon, dass wir getröstet in ein neues Jahr gehen können. Getröstet, das sagt er, der im Gefängnis sitzt und Angst um sein Leben haben muss, im Dezember 1944 seinen Lieben und auch sich selbst zu. Weil ihn der Glaube an Gott tröstet, ihn stark macht. Christinnen und Christen müssen nicht untröstlich sein, weil sie auch in den schwersten Zeiten ihres Lebens die Erfahrung von Gottes Nähe machen können.
    Von guten Mächten
    Von guten Mächten treu und still umgeben,
    behütet und getröstet wunderbar,
    so will ich diese Tage mit euch leben
    und mit euch gehen in ein neues Jahr.
    Von guten Mächten wunderbar geborgen,
    erwarten wir getrost, was kommen mag.
    Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
    und ganz gewiss an jedem neuen Tag. [19]
    Getrost sein. Das hört sich nach einer wunderbaren Lebenshaltung an. Für mich ist es eine Glaubenshaltung. Getrost. Ich bin ganz bei Trost. Getrost. Getröstet und ermutigt.
    Vielleicht lässt sich über Trost gar nicht schreiben oder reden. Vielleicht lässt sich Trost nur erfahren, erspüren, erdichten, ersingen. Trost ist ein Vorgang, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Gott. Gerade wenn unsere Flügel gebrochen sind, wir „on broken wings“ – mit gebrochenen Flügeln – leben müssen, sind wir ja dünnhäutig, anfällig für Kritik, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Wir haben das tiefe Bedürfnis nach Nähe und Gehaltensein, danach, uns anvertrauen zu können. Eine Schulter zum Anlehnen suchen wir, einen Platz, an dem wir Zuflucht finden können. Ohne Fragen, ohne Problemgespräche, nur die Erfahrung des Angenommenseins. Ein Ohr, das zuhört. Jemand, der annimmt, ohne zu urteilen. Ein Raum ohne Lösungsvorschläge, frei von allen Wegweisungen. Schlicht in den Arm genommen werden will ein Mensch, der Trost sucht.
    Friedrich Spee hat das in einem meiner liebsten Weihnachtslieder wunderbar in Worte gefasst. Er lebte zu Beginn des 17. Jahrhunderts (1591–1635) und erfuhr unendlich viel Not: den Dreißigjährigen Krieg, die Pest, Hexenverbrennungen. Gerade die als Hexen verurteilten Frauen, die er auf ihrem Weg zum Scheiterhaufen begleitet hat, rührten ihn, den jungen Jesuiten-pater, zutiefst an. Es war eine furchtbare Erfahrung für ihn. In den Verbrennungen sah er Finsternis und Jammertal, nicht Gottesurteile oder gar Recht. Es war ihm bewusst, dass Menschen Gott für ihre eigene Macht oder als Vollstrecker menschlicher Wahnvorstellungen missbrauchten. Um Hoffnung und Trost ging es ihm daher in seinen Liedern. „O Heiland, reiß die Himmel auf“, dichtete er in Anlehnung an Jesaja 45, Vers 8 – ein Schrei nach Trost.
    O Heiland, reiß die Himmel auf,
    Herab, herab vom Himmel lauf!
    Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
    Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!
    Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
    Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
    O komm, ach komm vom höchsten Saal,
    Komm, tröst uns hie im Jammertal . [20]
    Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Spees Frage ist oft auch unsere Frage. Wie kann es in dieser Welt so viel Trostlosigkeit geben? Vielleicht müssen wir diese Frage unbeantwortet stehen lassen und den gebrochenen Flügel als Teil des Lebens akzeptieren. Die Sehnsucht nach Trost mag uns umtreiben, selbst andere Menschen zu trösten. Wir können uns dafür öffnen, selbst Tröstende zu sein. Offen hinschauen, wo andere mit ihrem Kummer ringen. Und doch immer wieder darauf hoffen, dass auch wir getröstet werden. Dazu gehört auch der Mut, sich anzuvertrauen und zu öffnen. Vielleicht ist da jemand, der uns gern trösten würde, aber wir sind gar nicht offen dafür. Trost ist nicht das Ende von Leid, aber die tiefe Erfahrung, dass ich mit meinem Leid angenommen und umarmt werde. Von anderen Menschen. Und von Gott.
    Offenbar geht es dabei vor allem um Hoffnung, die Trost ermöglicht. Adolph Kolping sagte: „Wie übel wären wir dran, wenn unsere Hoffnung auf Menschen ruhte!“ Ja, wie übel wären wir dran, wenn Hoffnung derart begrenzt wäre.
    Als Seelsorgerin habe ich in dieser Hinsicht viel erlebt.

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