Sehnsucht nach Owitambe
Dorfbewohnern zu spüren. Der Zauberer blickte zufrieden. Er genoss diesen Augenblick seiner Macht. Noch einmal hob er beide Hände und gebot den Umstehenden Schweigen. Mit feierlicher Miene wandte er sich an den Ankläger und fragte, ob er über den Dieb den Todesfluch senken sollte. Nangolo warf sich vor dem Ankläger auf die Knie und flehte um Gnade. Doch der schüttelte ungnädig den Kopf und verlangte den Todesfluch.
»Verdammter Hokuspokus«, murmelte Johannes verärgert, während der Zauberer mit schwungvollen Gesten und donnernder Stimme seinen Fluch aussprach. Die Dorfbewohner zerstreuten sich nur langsam, um heftig diskutierend wieder ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen. Unterdessen übergab der Ankläger dem Zauberer fünf Rinder und erhielt von Nangolo dafür zehn Stück zurück, die er ihm angeblich gestohlen hatte.
Am nächsten Tag fand man Nangolo tot in seinem Kraal. Eine Giftschlange hatte ihn im Schlaf getötet.
Jellas Zustand blieb lange kritisch. Beinahe drei Tage lag sie ohne Bewusstsein. Ihr Atem ging schwer und röchelnd, außerdem hatte sie durch die Geburt sehr viel Blut verloren. Nakeshi blieb wie ein Schatten bei ihrer Freundin. Sie kühlte ihre fiebrige Stirn und versorgte die Brandwunden an ihren Beinen. Um ihre kleine Tochter kümmerte sich unterdessen eine Ovambofrau mit Namen Maria, die vor Kurzem ebenfalls entbunden hatte und die Kleine mit ihrem Kind stillte. Als Jella endlich erwachte, war sie zu schwach, um sich selbst um ihr Baby zu kümmern. Sie war nicht einmal fähig, es zu stillen, denn ihre Brüste waren durch die schwere Krankheit trocken geblieben. Tief gerührt hatte sie ihre kleine Tochter lange angesehen und ihr schließlich den Namen Riccarda gegeben. Es war ein alter Name, der »die Entschlossene« bedeutete. In Anbetracht ihrer denkwürdigen Geburt schien Jella der Name nur passend. Das kleine Mädchen gedieh prächtig und verlieh dadurch seiner Mutter die Kraft, sich stetig zu erholen. Nach Wochen im Bett wagte sie endlich die ersten Spaziergänge und bestand darauf, sich selbst um ihre Tochter zu kümmern. Als Nakeshi sah, dass ihre Sternenschwester wieder so weit hergestellt war, wurde es Zeit für sie zu gehen.
Sie wollte Bô folgen, der bereits zu ihren Leuten vorausgegangen war. Noch bevor der Mond sich neu füllte, beabsichtigte sie jedoch wieder nach ihr zu sehen. Jella ließ ihre Lebensretterin nur ungern ziehen, auch wenn sie wusste, dass ihre Freundin nicht einmal zwei Tagesreisen von ihr entfernt war. Kein Mensch gab ihr so viel Zuversicht wie diese kleine Frau, denn die Sorge um Fritz und Rajiv überschattete selbst die Freude an ihrer Tochter.
Imelda war bereits zweimal in Otjiwarongo gewesen, um sich nach ihrem Sohn und Rajiv zu erkundigen. Doch in keiner Behörde wusste man etwas über ihren Verbleib. Auch Traugott Kiesewetter war noch nicht in seine Missionsstation zurückgekehrt.
Die Lage im Land hatte sich ein wenig beruhigt, und es waren zumindest im Norden keine weiteren Aufstände zu befürchten. Die übrig gebliebenen Herero waren alle auf der Flucht ins Ovamboland oder befanden sich in den Konzentrations- und Auffanglagern.
So vergingen weitere Wochen und Monate, in denen sich die beiden Frauen, so gut es ging, um die Farm kümmerten. Sobald Jella wieder einigermaßen bei Kräften war, begann sie mit dem Wiederaufbau der Stallungen. Sie zeichnete Pläne, und Samuel setzte sie mit seinen Leuten um. Am Weihnachtsabend waren Imelda, Jella und die kleine Riccarda allein. Imelda hatte es sich nicht nehmen lassen, einen kleinen Weihnachtsbaum zu besorgen, der im weitesten Sinne sogar einem Tannenbaum glich. Sie hatte ihn liebevoll geschmückt und darauf bestanden, dass sie das Fest wie immer feierten. Nach der Bescherung gab es ein festliches Abendessen, das aus Bohnen, Süßkartoffeln und einem herrlich duftenden Antilopenbraten bestand. Obwohl sich beide Frauen Mühe gaben, den Anschein von Normalität zu erwecken, fiel es ihnen schwer, den Abend so richtig zu genießen. Neujahr kam und verstrich, und allmählich endete die Regenzeit und der Winter begann. Alle Nachforschungen über den Verbleib der Männer waren im Sand verlaufen. Johannes blieb genauso verschollen wie Fritz und Rajiv.
Es war Mitte Juni 1905. Ein unvergleichlicher Sternenhimmel strahlte über Owitambe. Da Neumond war, blinkten die Sterne besonders hell. Keine andere Lichtquelle trübte ihre Strahlkraft. Die Nächte waren jetzt bitterkalt, dennoch setzten
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