Sehnsucht nach Owitambe
Sie schlürfte den milchigen Würztee und überdachte nochmals den langen Tag. Tausende von Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Hatte sie alles richtig gemacht? Was konnte sie noch tun, um die Leute vor dieser schrecklichen Krankheit zu schützen? Wie konnte die Familie des Kesselflickers überleben, wenn Sita starb? Sie verdiente als Wäscherin weitaus mehr als ihr Mann …
Ihr knurrender Magen erinnerte sie, dass es auch noch andere wichtige Dinge gab. Fritz und Riccarda würden sicherlich schon mit dem Essen auf sie warten. Sie zog sich rasch an und bürstete ihr volles, rotes Haar, das von einigen silbernen Strähnen durchzogen war. Es war immer noch schwül und sehr heiß, aber wenigstens ließen die Regenfälle langsam nach. Der Monsun neigte sich seinem Ende zu.
Ricky saß bereits im Speisezimmer. Ihre schlechte Laune war ihr von weitem anzusehen. Sie hatte immer noch Hausarrest und ließ deswegen ihre Eltern jeden Tag von Neuem ihren Unmut spüren. Jella hatte längst Mitleid mit ihrer Tochter. Ihr Ärger über Rickys heimliches Verschwinden am Wagenfest war längst verraucht. Fritz dagegen blieb unerbittlich. Er war außer sich gewesen, als Ricky völlig durchnässt lange nach Einbruch der Dunkelheit endlich zu Hause aufgetaucht war. Seine heftige Reaktion hatte sogar Jella erstaunt, als er sie zu zwei Wochen Hausarrest und Musikverbot verdonnerte. Rickys Vergehen hatte sein Vertrauen in sie erschüttert. Noch mehr hatte es
ihn jedoch gekränkt, dass sie ihnen vorwarf, sie wie eine Gefangene zu behandeln. »Ihr nehmt mir die Luft zum Atmen«, hatte sie gesagt und war dann in Tränen aufgelöst aus dem Zimmer gestürmt. Fritz sah seine Autorität als Vater untergraben und wollte daraufhin ein Exempel statuieren. Wütend war er seiner Tochter gefolgt und hatte den Hausarrest auf unbestimmte Zeit verlängert. »Erst wenn du dich in angemessener Form bei uns entschuldigst, werde ich darüber nachdenken, die Strafe auszusetzen!«, hatte er gebrüllt. Aber Ricky dachte gar nicht daran. Sie fühlte sich im Recht und fand die heftige Reaktion ihres Vaters ungerechtfertigt. Sie wollte sich niemals entschuldigen. Für Jella war die Angelegenheit bereits am nächsten Morgen erledigt, während ihr Mann auf Rickys Übellaunigkeit mit eisigem Schweigen reagierte. Sie fand, dass die beiden es langsam übertrieben. Seit dem Vorfall waren immerhin schon sechs Wochen verstrichen.
»Wie war dein Tag?«, grüßte Jella in betont munterem Ton.
»Wie soll er schon gewesen sein?«, maulte Ricky, während sie mit der Rückseite ihrer Gabel Figuren auf die weiße Tischdecke zeichnete. »Als Gefangene im eigenen Haus hat man keine großen Freuden.«
Jella beschloss, über ihre provozierende Unverschämtheit hinwegzugehen.
»Ist dein Vater da? Er wollte heute früher kommen.«
Ricky zuckte gleichgültig mit den Schultern und malte weiter mit ihrer Gabel auf der Tischdecke herum.
»Dann lass uns schon mal mit dem Essen anfangen«, seufzte Jella und bat Jamina, die Speisen hereinzutragen. Bali hatte ein Thali gemacht. Gemeinsam mit seiner Mutter trug er eine große Metallplatte herein, auf der zahlreiche Näpfe mit unterschiedlichen Speisen standen. Neben einer Gemüsebrühe gab es Linsensuppe, köstlich duftende Currys in Rot-, Grün- und
Gelbtönen, Raita, eine Joghurtsoße mit Gurken, Zwiebeln, Tomaten und Korianderblättern, sowie Samosas, unterschiedlich gefüllte Gemüseteigtaschen, Chutneys und knusprig gebackene Roti. Jella liefen die Augen über.
»Bali, du hast dich heute selbst übertroffen«, lobte sie den jungen Koch. »Ich habe einen Riesenhunger. Guten Appetit«, wünschte sie ihrer Tochter und lud sich gleich mehrere Portionen gleichzeitig auf ihren Teller. Ricky nahm sich nichts. Jella wurde langsam ärgerlich. Ihr Tag war anstrengend genug gewesen, da hatte sie nicht die geringste Lust, mit der zur Schau gestellten miserablen Laune ihrer Tochter konfrontiert zu werden.
»Wenn du schon keinen Hunger hast, dann kannst du von mir aus auch in dein Zimmer gehen. Ich habe keine Lust, mir von dir den Appetit verderben zu lassen.«
Ricky zog einen Schmollmund und blitzte ihre Mutter angriffslustig an. Aber dann verzichtete sie auf eine beleidigende Antwort und stand wortlos auf. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging sie zur Tür. Dort stieß sie gegen ihren Vater, der gerade das Zimmer betreten wollte. Sie wollte sich grußlos an ihm vorbeidrücken, doch er hielt sie auf.
»Hallo, meine Gazelle«,
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