Sehnsucht nach Owitambe
über ihre Füße, die knöcheltief in dem Wasser standen, die der ergiebige Monsunregen gebracht hatte. Plötzlich bekam sie Panik. Sie war hier mutterseelenallein.
»Warte!« Ihre Stimme überschlug sich fast. Die Schritte verstummten. Ricky stolperte hinter dem Unbekannten her. Das Regenwasser lief ihr in Bächen über das Gesicht.
»In der Tat bin ich mir im Moment nicht ganz sicher, welches der richtige Weg zum Tempel ist«, gestand sie kleinlaut. »Wenn du vielleicht so nett wärst, ihn mir zu zeigen?«
Der junge Mann lachte leise. Diesmal lag kein Spott mehr in seiner Stimme.
»Dann komm erst mal«, meinte er und eilte ein Stück voraus, bis er zu einer überdachten Hofeinfahrt kam, unter der er Schutz suchte. In der Hofeinfahrt hing eine Laterne, die das Gesicht des Mannes beleuchtete. Erst jetzt erkannte Ricky, wie jung er war. Er mochte nur ein paar Jahre älter als sie sein. Zweifellos stammte er aus einem vornehmen indischen Haus. Seine Haut war hell, das Gesicht ebenmäßig mit einer leicht gekrümmten Adlernase. Unter seinem rotgrünen Turban schimmerte kräftiges blauschwarzes Haar hervor.
»Wir sollten warten, bis der Guss vorüber ist«, schlug er vor. Aber Ricky schüttelte heftig den Kopf.
»Auf keinen Fall!«, meinte sie entschieden. »Ich muss auf dem schnellsten Weg nach Hause.«
Der Mann zuckte bedauernd mit den Schultern und fragte sie nach ihrer Adresse.
»Bring mich zum Jagannath-Tempel zurück«, sagte sie ausweichend. »Von dort finde ich den Weg allein.« Sie wollte auf
keinen Fall, dass der Unbekannte sie nach Hause begleitete. Auch ohne seine Begleitung würde es Ärger genug geben.
Als sie den Tempel im strömenden Regen erreichten, verabschiedete sich ihr Retter von ihr. Den ganzen Weg hierher hatten sie kein Wort miteinander gewechselt.
»Das nächste Mal solltest du mehr auf den Weg Acht geben«, ermahnte er sie. »Es gibt hier auch Diebe und andere Halunken.« Seine unergründlichen Augen leuchteten im Regen. Ricky hätte ihn zu gern nach seinem Namen gefragt, aber aus irgendeinem Grund getraute sie sich nicht. Sicher fand er sie nur albern.
»Danke«, murmelte sie deshalb nur und eilte die Gasse entlang, die hinunter zum Picholasee führte. Der junge Mann blieb stehen und sah ihr nachdenklich hinterher.
Unstimmigkeiten
»Und wie lange dauert der Durchfall deiner Frau schon?« Jella kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit. Der Geruch von Erbrochenem und Kot in der einfachen Lehmhütte war unerträglich.
»Zwei Tage«, jammerte ihr Mann, ein einfacher Kesselflicker. »Und sie wird immer schwächer und schwächer. Sie kann einfach nichts bei sich behalten.«
Der Mann kniete verzweifelt neben seiner Frau, die auf einer einfachen aus Gräsern geflochtenen Matte lag, und wischte ihr das eben Erbrochene vom Mund. Jellas Blick fiel auf die Kalash, in der die Familie ihr Trinkwasser aufbewahrte. Das Wasser war trüb und voller Würmer. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf.
»Habt ihr kein sauberes Wasser?«
»Es ist das Wasser, das wir immer holen.«
»Ihr dürft es nicht trinken! Deine Frau ist krank, weil das Wasser schmutzig ist. Leiden noch mehr Menschen in deinem Viertel an dieser Krankheit?«, fragte sie.
»Die Frau meines Nachbarn und ihr kleiner Junge sind seit heute krank, aber die Straße hinunter soll es auch einige Fälle geben.« Der hohlwangige Mann sah sie aus tief liegenden Augen an. »Wird meine Sita sterben?«, fragte er ängstlich. Jella wollte nicht lügen. Es stand nicht gut um die Frau. Sie hatte schon viel zu viel Flüssigkeit verloren. Hilflos zuckte sie mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie resigniert. »Sita muss auf jeden
Fall viel trinken. Besorg ihr sauberes Wasser und gib dieses Pulver ins Wasser.« Sie reichte ihm ein Papiertütchen mit fein gemahlenem Salz und Zucker aus ihrer Tasche. »Das wird ihren Körper stärken.« Sie deutete nochmals auf das Wassergefäß.
»Woher kommt das Wasser? Hast du nicht gesehen, wie verdreckt es ist?«
»Wir holen es aus unserem Brunnen, wie immer«, meinte der Kesselflicker zerknirscht. »Der Monsun bringt den Schmutz. Es ist jedes Jahr dasselbe.«
Jella schüttelte entsetzt den Kopf. Wie oft hatte sie die Menschen hier schon vor verschmutztem Wasser gewarnt und ihnen erklärt, dass es der Grund für viele Krankheiten war.
»Ihr dürft das Wasser aus eurem Brunnen auf keinen Fall mehr benutzen«, warnte sie den Mann eindringlich. »Ihr müsst das Wasser aus einer
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