Sehnsucht nach Owitambe
sauberen Quelle holen.«
»Aber die Menschen aus dem angrenzenden Stadtteil werden das nicht dulden. Sie jagen uns davon, wenn wir zu ihnen kommen.«
»Dann müssen wir eben mit ihnen reden«, meinte Jella entschlossen. Sie gab dem Kesselflicker noch ein paar Anweisungen und machte sich dann auf den Weg zu dem Brunnen. Es war, wie sie befürchtet hatte. Der Brunnen, aus dem die Menschen dieses armen Stadtteils ihr Wasser bezogen, war durch die anhaltenden Regenfälle verschmutzt worden. Müll, Fäkalien und auch tote Ratten waren in sein Wasser gelangt und hatten ihn vergiftet. Sie fragte nach dem Haus des Mannes, der für das Stadtviertel zuständig war. Jedes noch so arme Viertel der Stadt hatte eine Art Ortsvorsteher, der sich für die Menschen verantwortlich fühlte. Sie musste den Mann dazu bewegen, mit dem Verantwortlichen des angrenzenden Viertels zu einer Einigung bezüglich der Wassernutzung zu kommen – wenigstens so lange, bis sich die Qualität des Wassers verbessert hatte. Vikram, ein dunkelhäutiger Sattler, hörte sich Jellas Vorschläge ruhig an.
»Es ist die Cholera«, meinte Jella schließlich. »Ihr werdet sie alle bekommen und sterben wie die Fliegen, wenn ihr weiter von eurem Wasser trinkt. Du musst dich mit deinen Nachbarn einigen.«
Vikram hatte berechtigte Zweifel.
»Wir sind Shudras«, jammerte er. »Nur einfache Handwerker. Unsere Nachbarn aber gehören zu den Vaishyas, den Kaufleuten und Händlern. Sie spucken auf uns einfache Leute. Sie gehören zu den Zweimalgeborenen. Ihre Kaste ist viel höher. Sie werden uns niemals erlauben, von ihrem Wasser zu trinken.«
»Das weiß ich«, stöhnte Jella, der das Kastenproblem im Laufe der Jahre nur allzu vertraut geworden war. »Wir müssen trotzdem mit ihnen reden.«
»Es ist sinnlos!«, beharrte Vikram. Jella platzte der Kragen.
»Schluss jetzt«, schimpfte sie. »Du kommst mit mir. Wir werden sie schon überzeugen, oder willst du, dass alle Menschen hier sterben? Auch vor deiner Familie macht die Krankheit nicht Halt.«
Vikram schüttelte resigniert den Kopf und führte sie schließlich zu Jeteendra, dem angrenzenden Ortsvorsteher. Jella fand es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wie die indische Gesellschaft in unterschiedliche Kasten gegliedert wurde. Wer das Glück hatte, als Priester, Krieger oder Kaufmann geboren zu werden, hatte ein annehmbares Leben zu erwarten. Die vierte Kaste der Shudras, der Pachtbauern, Handwerker, Diener und Tagelöhner dagegen galt als Abschaum der Gesellschaft. Unter ihnen standen nur noch die Kastenlosen, die Unberührbaren. Die Kasten grenzten sich streng voneinander ab; besonders die Shudras behandelte man fast wie Aussätzige. Man heiratete nur innerhalb seiner eigenen Kaste. Selbst das war nicht einfach, denn jede der vier Kasten war nochmals in zahllose Unterkasten gegliedert, die ebenfalls hierarchisch angeordnet waren.
»Hör endlich auf zu klagen und halt gefälligst den Mund«, befahl Jella dem jammernden Vikram, als sie endlich vor einem etwas größeren, aber immer noch sehr einfachen Haus standen, das dem Stoffhändler Jeteendra gehörte. Den ganzen Weg über hatte ihr der Sattler vorgejammert, wie sinnlos ihr Unterfangen war.
Jeteendra war ein Hüne von einem Mann, mit dunkler Haut und einem fleischigen Gesicht. Er begrüßte Jella ehrerbietig. Die Memsahib Dawa war in der ganzen Stadt bekannt und geachtet. Als er jedoch Vikram neben ihr sah, spuckte er auf den Boden.
»Was will der hier?«, fragte er abfällig. Jella erklärte ihm ausführlich die Sachlage. Jeteendra schien wenig beeindruckt.
»Was kümmert mich das Schicksal der Shudras?«, meinte er gleichgültig. »Es ist ihr Karma, wenn sie sterben sollen.«
»Es wird auch dein Karma sein zu sterben«, sagte Jella und sah Jeteendra fest in die Augen. Er war gut einen Kopf größer als sie und doppelt so breit. Doch davon ließ sie sich nicht einschüchtern.
»Wie meinst du das?«
Jeteendras Tonfall wirkte leicht verunsichert.
»So, wie ich es sage. Der Cholera ist es nämlich egal, zu welcher Kaste du gehörst. Wenn du deinen Nachbarn nicht hilfst, wird die Epidemie sich rascher ausbreiten, als du dir vorstellen kannst. Bald wird sie auch an eure Türen klopfen.«
»Du lügst«, behauptete der Stoffhändler. Er musterte Jella argwöhnisch aus seinen kleinen Augen. »Es ist genau andersherum. Die Shudras werden die Krankheit in unser Viertel bringen. Ich werde das niemals zulassen. Ich möchte sie hier nicht sehen. Geht
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