Sehnsucht nach Owitambe
Kopf.
»Ich weiß es nicht«, meinte er. Hartriegel griff nach dem Zettel und verzog, nachdem er ihn betrachtet hatte, enttäuscht das Gesicht.
»Von Ihnen hätte ich das am wenigsten erwartet«, sagte er. »Das ist Betrug! Packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie mir sofort aus den Augen. Für Sie ist die Prüfung beendet!«
»Ich … ich verstehe nicht …«
»Wollen Sie etwa leugnen, dass das hier eine Formelsammlung mit Lösungsansätzen ist?«
Raffael starrte fassungslos auf das Blatt.
»Der Zettel gehört mir nicht. Das müssen Sie mir glauben!«
»Raus!« Hartriegel sagte es leise, aber mit einer so unmissverständlichen Drohung, dass Raffael schweigend seine Tasche packte und eilig den Raum verließ. Erst als er draußen auf dem Gang stand, wurde ihm die volle Tragweite dieses Vorfalls klar. Jemand hatte versucht, ihn absichtlich hereinzulegen, damit er die Zulassung zur Reifeprüfung nicht bekam. Raffael war außer sich.
»Baltkorn, das wirst du mir büßen!«
Heißer Jähzorn wallte in ihm auf, als ihm klar wurde, dass kein anderer ihm das angetan haben konnte. Am liebsten wäre er zurück in den Raum gestürmt und hätte sich diesen Burschen direkt vorgeknöpft. Leider musste er einsehen, dass das nicht möglich war. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Wut wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn er noch eine Schlägerei anfing, dann würde er ohnehin von der Schule verwiesen werden. Direktor Griepich hatte ihm das bei seinem letzten Ausraster unmissverständlich klargemacht. Nein, er würde mit Hartriegel reden müssen. Ungeduldig wartete er das Läuten der Glocke durch den Pedell ab. Seine Mitschüler verließen das Klassenzimmer und bedachten ihn teils mit mitleidigen, teils jedoch auch mit schadenfroher Miene. Raffael versuchte, sie zu ignorieren. Nur Baltkorn, der offen grinste, warf er einen mörderischen Blick zu. Dann betrat er den Klassenraum. Dr. Hartriegel war gerade dabei, die Prüfungsbögen nachzuzählen und beachtete ihn nicht.
»Herr Dr. Hartriegel …« Raffael versuchte seiner Stimme einen möglichst souveränen Tonfall zu verleihen. »Könnte ich Sie sprechen?«
Hartriegel drehte sich kurz um. Dann zählte er weiter, ohne ihn zu beachten.
»Sie müssen mir glauben, dass es mir nie einfallen würde, zu
betrügen!« Raffael versuchte möglichst viel Überzeugungskraft in seine Worte zu legen.
Ein unerbittliches Schnauben war die Antwort.
»Der Zettel stammt nicht von mir. Das schwöre ich beim Leben meiner Mutter.«
»Passen Sie auf, was Sie da sagen!«, donnerte Dr. Hartriegel und wandte sich ihm endlich zu. »Was Sie getan haben, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Es ist unverzeihlich.«
»Aber ich habe nichts getan! Jemand muss mir den Zettel untergeschoben haben.« Raffael spürte, wie ihm die Felle davonzuschwimmen begannen.
»Ich werde den Vorfall der Lehrerkonferenz mitteilen müssen. Sie wissen, dass danach ihre Zulassung zur Reifeprüfung in Frage stehen wird?« Sein Tonfall ließ keine Zweifel zu. Etwas milder fügte er hinzu. »Wie konnten Sie mich nur so enttäuschen ?« Er war sichtlich verletzt. »Sie waren mein bester Schüler !« Raffael ließ seine Schultern sinken. Die Fakten sprachen offensichtlich gegen ihn. Dennoch wollte er nichts unversucht lassen, um seine Unschuld zu bezeugen. Er machte nochmals einen hilflosen Ansatz.
»Die Aufgaben waren leicht. Ich brauche dazu keine Formelsammlung.«
Dr. Hartriegel wurde langsam ungehalten. »Hören Sie auf, sich so haltlos zu verteidigen!« Sein von Gichtknoten verunstalteter Zeigefinger pochte anklagend auf das Beweisstück, während seine kleinen grauen Augen ihn hart über den Rand seiner Brille musterten. »Das ist leider ein eindeutiger Beweis. Gehen Sie mir aus den Augen!«
»Sie müssen doch sehen, dass das nicht meine Handschrift ist«, versuchte es Raffael nochmals. Sein Blick blieb verzweifelt auf dem Spickzettel haften. Mehr zufällig entdeckte er, dass die Formeln zum größten Teil unkorrekt wiedergegeben waren. Ein Hauch von Hoffnung keimte in ihm auf.
»Bitte, geben Sie mir eine Chance!« Mit Tränen in den Augen bat er Dr. Hartriegel, die bereits gelösten Aufgaben mit dem Spickzettel zu vergleichen. »Wieso sollte ich mir einen Spickzettel mit falschen Formeln machen?«, fragte er schließlich verzweifelt.
Dr. Hartriegel dachte einen Augenblick nach, dann lenkte er ein. Er mochte den jungen Sonthofen im Gegensatz zu vielen anderen seiner Kollegen. Der junge Mann war der einzige
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