Sehnsucht nach Owitambe
heiraten und Kinder bekommen, auch wenn Mukesh und ihre Familie dagegen wären. Sie würden schon einen Weg finden. Die romantischen Gedanken machten sie schläfrig, und schließlich schlummerte sie ein.
Das Trommeln einer ausgelassenen Festtagsprozession riss sie aus ihrem ungewollten Schlaf. Sie fuhr auf und blickte erschrocken nach der Uhr. Es war spät! Rasch stand sie auf und wickelte sich ihren neuen roten Sari um. Es war gar nicht so einfach ohne Jaminas Hilfe. Als sie fertig angekleidet war, fischte sie eine weiße Lotusblume aus der Wasserschale auf ihrer Kommode und steckte sie in ihr Haar. Zufrieden musterte sie ihr Spiegelbild. Wer nicht genau hinsah, würde sie für eine Inderin halten. Nun musste sie nur noch unbemerkt aus dem Haus schlüpfen.
Mukesh wartete wie versprochen an dem Ghat. Tagsüber wuschen hier die Frauen Wäsche, aber jetzt waren die Treppen, die zum See hinabführten, menschenleer. In der Mitte des Sees strahlten die Lichter aus den Fenstern des hell erleuchteten Sommerpalastes. Fröhliche Stimmen, Musik, Gelächter drangen aus allen Winkeln der Stadt. Nur hier unten war es ruhig. Das dunkle Wasser schlug in leichten, plätschernden Bewegungen an die steinernen Stufen. Mukesh hatte eines der Boote, mit denen die Diener die Vorräte auf die Insel des Sommerpalastes schafften, entwendet. Im Gegensatz zu den prächtig ausgestatteten fürstliche Nachen würde dieses nicht vermisst werden. Das Spiel mit dem Feuer machte Mukesh Spaß. Er wollte es genießen, solange es ihm noch möglich war, denn schon in wenigen Tagen würde sein sorgloses Leben ein Ende haben. Sein Vater und der Maharana hatten ihm erst vor ein paar Tagen unmissverständlich eröffnet, dass er sich nun seinen Aufgaben am Hof würde stellen müssen. Der Maharana wollte ihn sofort als eine Art Spion auf Reisen schicken, um in den anderen Fürstentümern Rajasthans herauszufinden, ob die Stimmung für oder gegen die Engländer war. Der Herrscher opponierte zwar nicht in der Öffentlichkeit gegen die britischen Besatzer, wollte aber auf dem Laufenden bleiben, falls sich doch einmal die Gelegenheit ergab, sich mit den anderen Maharadschas gegen die Engländer zu verbünden. Mukesh hatte nicht ablehnen können, denn er interessierte sich brennend für die überall im Land aufkeimenden Feuer des Widerstands – wenn auch aus anderen Gründen als der Maharana. Er sympathisierte seit Längerem mit Gruppierungen, die wie Mohandas Ghandi um individuelle Selbstkontrolle und Selbstbestimmung kämpften: Indien den Indern. Er war gegen Standesunterschiede und gegen das einengende Kastensystem. Seine neue Aufgabe würde es ihm ermöglichen, wertvolle Kontakte zu knüpfen, die er später einmal nutzen konnte. Er freute sich auf seine neue Aufgabe und würde sich ihr ganz hingeben.
Leider haftete an seiner Zukunft ein bitterer Beigeschmack. Er würde Ricky sehr lange nicht wiedersehen können, ja vielleicht würde er sie sogar verlieren. Anfangs hatte es ihm nur Spaß gemacht, einer jungen Europäerin den Kopf zu verdrehen. Es war ein Spiel mit dem Feuer und aufregend wie seine heimlichen Ausflüge. Die Engländerinnen, mit denen er es in Oxford zu tun gehabt hatte, waren dumme oberflächliche Gänse gewesen, die das Flirten lediglich als Spaß verstanden hatten. Bei Ricky hatte er schnell feststellen müssen, dass sie nicht nur seine Komplimente, sondern auch ihn selbst sehr ernst nahm. Das war eine völlig neue Erfahrung gewesen. Es schmeichelte ihm nicht nur; er musste sich eingestehen, dass er sich ernsthaft in die junge Frau verliebt hatte.
»Mukesh!«
Das Flüstern riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. Er löste sich aus dem Schatten der Mauer, an die er sich gelehnt hatte, und trat in das dunkle Zwielicht.
»Ich bin hier.« Seine Stimme war rau vor Freude. Am liebsten hätte er Ricky sofort in seine Arme genommen. Doch er wollte sie nicht zu sehr bedrängen. Sie kam langsam auf ihn zu, und er stellte überrascht fest, dass sie einen Sari trug. In der Dunkelheit leuchtete eine weiße Lotusblüte in ihrem dichten, schwarzen Haar. Nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen! Mukesh streckte ihr beide Hände entgegen und führte sie zu dem flachen, aber breiten Nachen.
»Es ist schön, dass du hier bist«, raunte er in ihr Ohr, als sie vorsichtig hineinstieg. »Es tut mir leid, dass es nur der Lastkahn eines Dieners ist«, entschuldigte er sich. »Ich habe versucht, ihn so gemütlich wie möglich auszupolstern.«
Tatsächlich
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