Sehnsucht nach Owitambe
nicht mehr aufzuhalten. Im Morgengrauen des nächsten Tages sattelte sie ein Pferd und ritt damit nach Hakoma, zu der Farm, die sie nie wieder hatte betreten wollen. Fritz hatte sie gebeten, nichts Übereiltes zu tun. Er kannte sie und wusste, wie aufbrausend sie sein konnte. Doch sie hatte ihn abgewehrt. »Raffael hat Sonja offensichtlich geliebt. Nun ist es meine Pflicht als Schwester, mich in seiner Abwesenheit um seine Familie zu kümmern.«
Als sie sich Hakoma mit der prächtigen Auffahrt und dem grauen Herrenhaus näherte, überkamen sie dann doch Zweifel, ob sie nicht etwas überstürzt handelte. Vor der Einfahrt parkte ein Automobil. Sie hoffte sehr, dass es nicht bedeutete, dass der Herr im Hause war. Der Garten vor dem Haus mit seinem kurz geschnittenen Rasen und den eingefassten Blumenbeeten war sehr gepflegt. Die Stallungen und Nebengebäude sahen hingegen heruntergekommen aus. Jella fragte sich, womit Nachtmahr sein Geld verdiente. Offensichtlich tat er es wohl nicht mehr mit Farmarbeit. Sie band ihr Pferd vor dem Treppenaufgang fest und stieg zur Haustür hinauf. Die doppelte Eingangstür war verschlossen. Kurzerhand betätigte sie den silbernen Türklopfer. Ein tiefschwarzer Damarra öffnete die Tür. Er trug eine schwarz-weiße Dienerlivree und fragte sie höflich nach ihrem Begehren. Sie verlangte rundheraus, eine der Herrschaften zu sprechen.
»Der gnädige Herr ist nicht im Haus«, antwortete der Diener mit unbewegter Miene und perfektem Deutsch.
»Dann wünsche ich Madame zu sprechen.«
»Madame fühlt sich nicht wohl.« Offensichtlich hatte er Anweisungen, nicht zu stören.
»Sagen Sie ihr, dass Jella van Houten sie zu sprechen wünscht. Es ist dringend, denn es handelt sich um eine Familienangelegenheit.«
Der Diener verschwand und ließ Jella in der großen Eingangshalle zurück. Sie erinnerte sich, wie sie vor vielen Jahren zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war. Sie verband mit dem düsteren Gebäude nur schlechte Erinnerungen. Mit schleppenden Schritten kam wenig später Isabella von Nachtmahr die Treppe herunter. Auch sie war älter geworden. Ihre zierliche Gestalt war noch durchscheinender und zerbrechlicher geworden. Auf ihren feinen Gesichtszügen lag unverkennbar Verbitterung und Trauer. Als sie Jella erblickte, wagte sie ein zaghaftes Lächeln.
»Frau van Houten«, grüßte sie mit leiser Stimme und streckte ihr die abgearbeitete Hand entgegen, die so gar nicht zu ihrer grazilen Erscheinung passen wollte. Ihre von feinen Fältchen überzogene Haut wirkte blass, aber nicht mehr ungesund gelb. Offensichtlich schien sie ihr Leberleiden in den Griff bekommen zu haben.
»Sie wissen, weshalb ich komme?«
Frau von Nachtmahr sah Jella traurig an. Tränen sammelten sich in ihren Augenlidern.
»Sie kommen zu spät«, meinte sie leise. »Sonja ist schon lange nicht mehr hier. Rüdiger hat sie davongejagt, als er von ihren Umständen erfuhr.«
»Wie konnten Sie das zulassen?«, fragte Jella entsetzt. Im gleichen Augenblick bedauerte sie ihre Frage. Sie wusste nur zu gut, dass Nachtmahr seine Frau wie eine Sklavin behandelte. »Ist sie wenigstens gut untergebracht? Wo lebt sie? Wie geht es ihrem Kind? Sie muss doch längst entbunden haben!«
Isabella von Nachtmahr begann zu weinen. Heftiges Schluchzen schüttelte ihren zerbrechlichen zarten Körper.
»Es ist alles so schrecklich! Niemand weiß, wo sie ist, aber ich vermute, dass sie nach Windhuk gegangen ist. Sie musste sofort verschwinden. Ich konnte ihr gerade noch heimlich etwas Geld zustecken. Rüdiger war so außer sich. Er gibt mir an allem die Schuld. Einmal habe ich mich bemüht, Nachforschungen anzustellen, aber Rüdiger hat es erfahren und mir Schläge angedroht für den Fall, dass ich es noch einmal versuche. Dabei ist die Hoffnung, dass es ihr gut geht, das Einzige, was mich noch am Leben hält.«
Sie griff nach Jellas Händen und umklammerte sie. »Helfen Sie mir, meine Tochter wiederzufinden! Gott hat Sie geschickt, um uns zu helfen.«
Jella war von dem Gefühlsausbruch der Frau völlig überrascht. Wie viel Leid musste sich in dieser Frau angesammelt haben! So entsetzt sie über Nachtmahrs Kaltherzigkeit war, so viel Mitgefühl empfand sie für dessen Gattin.
»Nun beruhigen Sie sich erst einmal. Wenn Sonja in Windhuk ist, werden wir sie auch finden. Wir werden eine Lösung für alle finden.«
»Rüdiger wird niemals zulassen, dass sie mit dem Kind hierherkommt«, schluchzte Isabella.
»Das muss sie auch
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