Sehnsucht nach Owitambe
geeigneten Baum gefunden hatte, auf den sie klettern konnte, der aber für einen Löwen vemutlich zu hoch war. Mit letzter Kraft zog sie sich auf den unteren Ast einer Schirmakazie und kletterte von dort auf eine höher gelegene Astgabel. Dort richtete sie sich so gut es ging ein. Es würde eine kalte Nacht werden. Zitternd hüllte sich Nakeshi in ihren Lederumhang. Er war nicht besonders warm. Um sich von der Kälte abzulenken, richtete sie ihren Blick durch eine
Lücke in dem grünen Geäst auf den Sternenhimmel. Unzählige Lichtpunkte, die sich zu dicht gedrängten Sternenbildern zusammenfügten, leuchteten friedlich auf. Irgendwo dort oben war auch der Stern, der für sie stand. Dicht neben ihrem Stern befand sich der von Jella und der von Sheshe, deren Geist sie schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte.
Nakeshi zwang sich, wach zu bleiben. Immer wieder lauschte sie in die Nacht mit all ihren seltsamen Geräuschen und fragte sich, ob der Löwe bereits in ihrer Nähe sein mochte. Doch sie hörte nichts. Ihre Augenlider wurden immer schwerer und gaben schließlich der Erschöpfung des anstrengenden Tages nach.
Das Knacken eines Astes riss sie abrupt aus ihrem Schlaf. Da war etwas unter ihr, direkt am Stamm des Baums. Sie beugte sich vor, um die Ursache für das Geräusch auszumachen. Leider war es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Ihr Herz raste. Es konnte nur der Löwe sein! Er hatte sie gefunden. Sie schnupperte, um den scharfen Raubtiergeruch in die Nase zu bekommen, aber die Aufregung vernebelte ihre Sinne. Wieder knackte ein Ast. Nakeshi hörte jetzt, wie sich das Tier niederlegte. Langsam dämmerte ihr, dass sie in der Falle saß. Der Löwe wartete in aller Ruhe, bis sie vom Baum stieg. Dann würde er zuschnappen. Sie zitterte und umfasste ihren Speer noch fester. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich dem Kampf stellen.
Der Ochsenwagen wurde gerade für die Reise ins Kaokoveld beladen. Samuel und Joseph schleppten mehrere Säcke mit Maismehl und einen weiteren Beutel mit Trockenfleisch heran, während Johannes seine Liste mit dem notwendigen Proviant durchging. Die Reise würde einige Wochen, wenn nicht gar Monate in Anspruch nehmen. Deshalb mussten sie gut gerüstet sein. Außer Lebensmittel und Kleidern wollten sie Werkzeug und Ersatzteile für den Wagen mitnehmen. Es gab nur wenige
fest angelegte Pads, sodass ein Achsenbruch jederzeit möglich war. Jella hatte für Sarah bereits eine Reiseapotheke zusammengestellt und war gerade dabei, ihrer Stiefmutter die unterschiedlichen Medikamente und ihre Anwendungen zu erklären. Fritz hielt sich unterdessen mit Josua auf den Weiden auf, um einige ausgewählte Rinder einzutreiben. Johannes hatte vor, Sarahs Familie einige seiner Zuchtrinder zu schenken.
»Seht mal!« Jella deutete auf eine Staubwolke, die sich der Farm näherte. »Wir bekommen Besuch!«
Johannes blinzelte. Seine Augen waren in letzter Zeit nicht mehr so gut wie früher. Doch dann leuchtete sein Gesicht freudig auf.
»Das muss der Polizeioffizier sein. Endlich!«
Jella, deren Augen um einiges schärfer waren als die ihres Vaters, zog skeptisch ihre Augenbraue hoch.
»Ich möchte nur wissen, weshalb dann Nachtmahr und sein Sohn mit der Truppe reiten!«
»Nachtmahr?«
Johannes schüttelte verwundert den Kopf. Die Reitertruppe kam näher und nahm schärfere Konturen an. Zum allgemeinen Erstaunen war der Polizeioffizier nicht allein gekommen, sondern wurde von drei weiteren Schutztruppensoldaten begleitet.
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte Jella. Die Soldaten waren bis an die Zähne bewaffnet. In scharfem Trab näherten sie sich nun dem Farmhaus und seinen Nebengebäuden. Johannes ging den Männern entgegen, um sie zu begrüßen. Doch der Polizeioffizier, ebenfalls ein Schutztruppensoldat, ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit von der Hitze gerötetem Gesicht und einem dicken braunen Zwirbelschnurrbart.
»Johannes von Sonthofen?« Sein bayrischer Einschlag war kaum zu überhören.
»Derselbe«, antwortete Johannes knapp. Die betont distanzierte
Art des Polizisten irritierte ihn. Hier draußen in der Wildnis verzichtete man in der Regel auf große Formalitäten.
»Gegen Sie liegen schwere Anschuldigungen vor!«
Johannes lachte ungläubig auf, doch dann fing er den schadenfrohen Blick seines Nachbarn auf und verstummte.
»Was soll das heißen?«, fragte er misstrauisch.
»Ebenselbiges«, blaffte Nachtmahr gehässig.
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