Sehnsucht nach Owitambe
ausschließlichen Anspruch auf das Wasser. Lass mich das nur machen. Bis ihr zurück seid, ist alles geklärt.«
»Fritz hat recht!« Sarah ergriff nur selten das Wort. Doch jetzt sprach sie sich energisch für die Reise aus. »Lass uns morgen aufbrechen. Es ist höchste Zeit, dass unser Sohn auch den anderen Teil seines Lebens kennenlernt. In seiner Brust schlägt auch das stolze Herz eines Himba. Er muss lernen, es mit seinem weißen Blut in Einklang zu bringen.«
Johannes blieb bei seinem Zögern. Doch Jella, Fritz und Sarah gelang es schließlich, ihn zu der Reise zu überreden.
Doch dann war es wieder einmal Nachtmahr, der ihre Pläne zunichtemachte.
Nakeshi lief und weinte ohne Unterlass. Ihr Herz tat weh wie beim ersten Mal. Sie war Bô gleichgültig. Er hatte es selbst gesagt. Wie hatte sie sich nur einreden können, dass er je etwas für sie empfunden hatte? Nun wollte sie nur noch eines: fort von Bô und fort von seiner Gruppe. Twi und Chuka hatten versucht, sie zurückzuhalten. Doch Nakeshi ließ sich ihr Vorhaben nicht ausreden.
»Ich habe Sehnsucht nach unseren Leuten«, behauptete sie. »Ich habe nie gesagt, dass ich für immer im Sandveld bleibe.«
Chuka hatte geweint und sie angefleht, es sich noch anders zu überlegen.
»Geh nicht allein«, jammerte sie. »Die wilden Tiere werden dich auffressen. Du wirst verdursten und verhungern.«
Aber Nakeshi ließ sich nicht beirren. Ihr Entschluss stand fest. Sie nahm ihre Tasche und ein Straußenei mit Wasser, füllte ihre Vorräte auf und verließ noch am selben Tag die Gruppe.
Anfangs regnete es noch. Der Sand war schwer von der Nässe, sodass Nakeshi gut vorankam. Als der Regen schließlich
aufhörte und die Sonne wieder ihre kräftigen Strahlen auf den Boden sandte, stiegen überall feine Dampfwolken von den Dünen auf. Die Namibwüste hatte sich innerhalb weniger Stunden verwandelt. Die wenigen Stunden Feuchtigkeit hatten ausgereicht, um die dürren, unscheinbaren Pflanzen zum Ergrünen zu bringen. Die tiefroten, dampfenden Sanddünen waren gesprenkelt von hellgrünen Grassoden. Doch Nakeshi hatte keinen Blick für die Schönheit ihrer Umgebung. Sie war enttäuscht und verletzt und wollte nur noch eine große Entfernung zwischen sich und Bô bringen. Ohne Pause lief sie bis Sonnenuntergang. Dann hüllte sie sich in ihren Umhang, trank einen Schluck Wasser und schlief sofort ein. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ein Feuer gegen die Wildtiere anzufachen. Die Gefahr war ihr schlichtweg gleichgültig.
Im Traum erschien ihr Bô. Er lachte sie aus. Sein Gesicht verwandelte sich in eine hässlichen Fratze, die ihr Angst machte und sie bedrohte. Sie floh vor ihm durch dorniges Gebüsch. Immer weiter ging es einen steilen Berg hinauf. Ihre Lungen barsten fast vor Anstrengung. Dann tat sich plötzlich ein jäher Abgrund vor ihr auf. Es gab keinen Weg zurück. Bô war ihr dicht auf den Fersen. Er war zu einem riesigen Monster angewachsen mit einem blutunterlaufenen Auge, das sie hasserfüllt anglotzte. Mit Entsetzen sah sie, wie Schlangen aus seinem blinden Auge krochen, während ein messerscharfes Raubtiergebiss nach ihr schnappte. Ihr blieb kein anderer Ausweg. Sie schloss die Augen und sprang in die Tiefe. In diesem Moment löste sich ihr Geist aus ihrem Körper und wurde sanft von einer großen, weißen Frau mit flammend roten Haaren aufgefangen.
»Jella«, seufzte sie erleichtert.
»Nakeshi.«
Wie freundlich ihre Stimme klang! Sanft wie ein Frühlingsregen und heilsam wie ein Kräutertrunk. Der Knoten in Nakeshis Brust begann sich zögernd zu lockern, während sie
bitterlich weinend ihrer Sternenschwester ihren Kummer anvertraute. Jella hörte ihr aufmerksam zu. Sie streichelte Nakeshi und sprach sanft auf sie ein. »Hör auf dein Herz«, riet sie ihr. »Da ist kein Monster.«
Ängstlich wagte Nakeshi einen Blick auf die hohe Klippe. Tatsächlich. Das Monster war verschwunden. Stattdessen stand Bô dort oben und winkte ihr traurig zu.
»Siehst du«, meinte Jella. »Manchmal verwirren die Geister deinen Kopf, aber das Herz sagt dir die Wahrheit.«
Nakeshi verstand nicht recht, was Jella damit meinte, aber sie spürte, wie der Frieden wieder in ihre Seele zurückkehrte.
Beim Aufwachen am nächsten Morgen kam der Herzschmerz wieder, aber er war um eine Spur erträglicher geworden. Sie konnte ihn ein Stück weit in sich einschließen und wieder an andere Dinge denken. Neuer Lebensmut mischte sich unter ihren Kummer, und auch die
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