Sehnsucht nach Owitambe
der Himbas beinahe unmöglich, eigenbrötlerische Wege zu gehen. Dafür war das Leben miteinander viel zu eng verwoben. Außerdem lechzte er nach Anerkennung und versuchte sie dadurch zu gewinnen, dass er von ihnen zu lernen begann. Im Gegensatz zu ihm waren Himbakinder schon sehr früh selbstständig. Jungen in seinem Alter zogen ganz selbstverständlich mit den Ziegen und Schafen auf die Weide oder trieben Kälber in dornenumrangte Gehege, die sie selbst errichtet hatten. Die Kinder waren ganz erstaunt, dass Raffael nicht einmal das einfache hohe »Ah … ah« ausstoßen konnte, um die Schafe und Ziegen anzulocken. Ungeschickt versuchte er die Rufe, das Pfeifen und Schnalzen nachzumachen. Der erste Erfolg war kläglich, und er musste das gutmütige Lachen der Kinder ertragen. Raffael kam sich plötzlich dumm und unerfahren vor und begann zu weinen. Aber sein achtjähriger Cousin Katondoihe tröstete ihn und versprach, ihm alles Wichtige beizubringen. Zum ersten Mal in seinem Leben fand Raffael einen wahren Freund. Er wollte alles tun, um dem Älteren zu gefallen. Unermüdlich übte er die Befehle und Laute und machte schließlich auch Fortschritte. Endlich war Raffael so weit, und sein sehnlichster Wunsch war nun, mit seinen Cousins und Cousinen zum Ziegenhüten auszuziehen.
Sarah, die hier wieder ihren Himbanamen Vengape trug, und Johannes lauschten amüsiert und wohlwollend der Vorführung ihres Sohnes. Es war längst dunkel, und sie saßen um
das wärmende Feuer. Neben ihnen streckte der alte Venomeho, Raffaels Großvater, seine Finger über die wärmenden Flammen. Dann griff er nach seiner Pfeife, die aus dem harten Holz einer großen Mopanewurzel geschnitzt war, und begann sie bedächtig mit dem Tabak zu stopfen, den er bei den Damarra in Sesfontein eingehandelt hatte. Erst nachdem er sie richtig gestopft hatte, entzündete er sie mit einem Stück glühender Holzkohle. Tief sog er den Rauch in seine Lungen. Doch der starke Tabak brachte ihn zum Husten, bis ihm die Augen tränten und er die Pfeife widerwillig an Johannes weiterreichen musste.
»Vielleicht bin ich zu alt zum Rauchen«, gestand er. »Aber ich bin ganz gewiss noch nicht zu alt, um euch von unserem Volk zu erzählen.« Er machte eine lange Pause.
»Doch bevor ich damit beginne, möchte ich mit meinem Enkel reden!« Er winkte Raffael zu sich heran. »Warum möchtest du mit den Kindern zum Viehhüten gehen?«, fragte er neugierig. »Weißt du nicht, wie anstrengend das ist? Dort draußen wird es heiß. Ihr seid den ganzen Tag auf den Beinen, müsst die dornigen Zweige zu festen Zäunen fügen und klettern, um verirrte Tiere zurückzuholen. Kannst du das?«
Raffael nickte eifrig.
»Katondoihe hat mir alles gezeigt«, behauptete er selbstbewusst. »Und klettern kann ich sowieso.«
Venomeho musterte ihn stolz. »Nun gut«, brummte er und forderte von Johannes die Pfeife zurück, die er tapfer rauchte. Einen weiteren tiefen Zug nehmend, begann der alte Mann in seinen Erzähltonfall zu verfallen. »Ich erkenne, dass in dir das Blut unseres Volkes fließt«, sagte er bedächtig. »Zieh mit den Jungen aus und werde ein guter Hirte. Eines Tages wird dir auch eine große Herde gehören!«
Raffael stieß einen lauten Jubelschrei aus und stürmte davon, um Katondoihe die gute Nachricht zu überbringen.
Johannes hatte dem Gespräch erst amüsiert zugehört, war aber dann ins Grübeln geraten. Seine Gedanken schweiften in den letzten Tagen immer öfter nach Owitambe und zu seiner Tochter. Wie mochte es ihnen ergangen sein? Mittlerweile war selbst bis in diese abgelegene Gegend die Nachricht von den immer schlimmer werdenden Unruhen gedrungen. Es gab zwar keine genauen Informationen, doch Johannes befürchtete, dass auch seine Farm in die Unruhen verwickelt werden konnte. Er hatte sich viel zu lange der Sorglosigkeit hingegeben. Nun war es Zeit zurückzukehren. Sarah und er waren sich immer einig gewesen, nur wenige Wochen bei den Himbas zu bleiben. Es sollte ein Kennenlernen werden, mehr nicht. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau, die mit einem vergnügten Lächeln an den Lippen ihres Vaters hing, der eine seiner vielen Geschichten zum Besten gab. Sie wirkte so locker und gelöst! Plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich noch einmal mit ihm zurück nach Owitambe wollte. Hier bei ihrer Familie hatte sie wieder zu sich selbst gefunden und ihre schrecklichen Erfahrungen endgültig überwunden. War sie noch die Frau, die er
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