Sehnsucht nach Owitambe
Raffael schüttelte nur genervt den Kopf.
»Ich mag das Märchen nicht mehr hören«, meinte er trotzig. »Das ist Kinderkram!«
»Ach ja?« Johannes horchte auf. Bislang konnte sein Sohn von Geschichten gar nicht genug bekommen. »Vielleicht möchtest du, dass ich dir etwas anderes erzähle?«
»Nein!«
»Ist etwas mit dir? Bist du zu müde für eine Geschichte?«
»Nein!«
»Bedrückt dich etwas?«
Raffael sah seinem Vater in die Augen. Er kämpfte offensichtlich mit den Tränen und dachte darüber nach, ob er überhaupt etwas sagen sollte. Schließlich platzte es aus ihm heraus.
»Warum bin ich nicht so wie du?«, wollte er wissen. »Ich hasse meine dunkle Haut. Wegen ihr hassen mich alle weißen Menschen.«
»Aber Junge! Das ist doch nicht wahr. Deine Haut ist wunderbar. Sieh nur, wie hässlich meine ist!« Er hielt Raffael seinen
mit Sommersprossen bedeckten Arm hin, der von der Sonne krebsrot war. Der Junge sah kurz hin.
»Ja, weiß ist hässlich«, stimmte er schließlich zu. »Aber trotzdem ist ein weißer Mensch mehr wert. Warum?« Er wandte sich wieder seinem Vater zu. Dieses Mal war seine Miene trotzig herausfordernd. Johannes seufzte. Auf diese Frage hatte er schon lange gewartet. Er hatte nicht gedacht, dass es ihm so schwerfallen würde, seinem Sohn darauf zu antworten.
»Menschen mit weißer Hautfarbe sind nicht mehr wert als Menschen mit brauner, gelber oder roter Hautfarbe. Das Problem ist nur, dass sie meinen, sie sind mehr wert.«
»Warum glauben sie das?«
Johannes zuckte mit den Schultern. »Sie bilden sich etwas auf ihre Bildung ein, auf den Fortschritt, und glauben, ihn auch hierher nach Afrika bringen zu müssen, um den Völkern damit zu helfen.«
»Was ist ein Fortschritt?«, wollte Raffael wissen.
»Maschinen, Technik, bessere Medizin.«
»Und Kanonen und Gewehre?«
»Die auch!«
»Müssen die Afrikaner ohne den Fortschritt sterben?«
»Sicher nicht«, musste Johannes ehrlicherweise zugeben. Sein Sohn machte sich bereits mehr Gedanken über die Welt, als er gedacht hatte.
»Dann ist es besser, wenn sie wieder aus Afrika verschwinden«, zog Raffael als Resümee.
»Ich fürchte, das wird nicht so ohne Weiteres geschehen!«
»Wenn du nicht nach Afrika gekommen wärst, dann wäre ich ein richtiger Himba«, meinte der Junge plötzlich. Tränen schossen aus seinen Augen. »Und dann wäre mir die Schande erspart geblieben, und ich wäre ein guter Ziegenhirte geworden und hätte immer bei den Himbas bleiben können!« Die Heftigkeit, mit der er sprach, erschütterte seinen Vater.
»Was redest du da?«, fragte er sichtlich überrascht. »Du wolltest doch auch wieder zurück nach Owitambe!«
»Wollte ich nicht«, schluchzte Raffael. »Katondoihe und die anderen Kinder waren immer nett zu mir. Nicht so fies wie Mateus und Ben auf Owitambe. Ich wäre am liebsten für immer dort geblieben, aber dann haben sie mich ausgelacht, weil ich beim Ziegenhüten alles falsch gemacht habe!«
»Katondoihe hat dich bestimmt nicht ausgelacht!«
»Ich habe aber Angst gehabt!«, gestand Raffael kleinlaut. »Ich habe gesagt, dass ich ganz allein auf die jungen Zicklein aufpassen kann, während die anderen Kinder die Tiere zusammengetrieben haben, aber als ich allein war …« Er wich Johannes’ Blick aus und starrte an die helle Tuchwand des Planwagens. »… da hörte ich plötzlich den Ruf eines Schabrakenschakals. Er war ganz nah!«
Johannes strich sanft über den Kopf seines Sohnes. Es rührte ihn, wie er sich für seine Angst schämte. Gleichzeitig wollte er ihm aus seiner Verlegenheit helfen.
»Ich habe auch schon oft Angst gehabt«, gestand er seinem Sohn. »Jeder Mensch hat Angst, egal, ob er eine weiße oder eine schwarze oder eine andere Hautfarbe hat. Dafür musst du dich nicht schämen.«
Raffael wandte sich wieder seinem Vater zu und sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an.
»Ich bin dann weggerannt und habe mich in einem Felsunterschlupf versteckt. Und dann sind die Schakale wirklich gekommen und haben versucht, in das Zickleingehege zu kommen. Anstatt die anderen zu rufen, saß ich nur da und habe mich gefürchtet. Katondoihe hat mich dafür ausgeschimpft. Das wird er mir nie verzeihen!«
»Hast du denn noch einmal mit ihm geredet?«
»Natürlich nicht!«, schrie Raffael aufgebracht. »Er verachtet mich, genau wie die anderen Kinder. Und das nur, weil ich kein
richtiger Himba bin! Ich bin kein Himba und ich bin kein Weißer! Ich bin ein Niemand!«
Johannes versuchte
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