Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
sind als eine Aprikose. Man braucht Kraft dazu, mehr Kraft, als Malu haben kann.
»Was hat Ruppert getan?«, wollte Wolfgang wissen.
»Geschrien hat der junge Herr, dass man glauben konnte, das ganze Haus steht in Flammen. Mit dem Finger hat er auf das kleine Fräulein gezeigt und gebrüllt: »Die war’s! Die da war’s! Die hat den Katapult abgeschossen. Ich hab’s genau gesehen.«
Wieder betrachtete Wolfgang von Zehlendorf seine schlafende Tochter. Er trat zu ihrem Bett und hob die Hand, um ihr eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Malus Lider zitterten sanft. Sie spitzte das Mündchen, sog an ihrem Daumen und seufzte friedvoll. Er ließ die Hand sinken. Sein Gesicht wurde düster, verzerrte sich im Schmerz. Ein herzzerreißender Seufzer entrang sich seiner Brust. Dann wandte er sich rasch ab. »Hat Malu etwas gesagt?«
Die Kinderwärterin schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts hat sie gesagt. Nur geschaut mit ihren großen Augen, als ob sie gar nicht verstünde, was geschehen war.«
»Wie sollte sie auch?«, empörte sich Wolfgang. »Mein Gott, sie ist noch so klein! Ein kleines unschuldiges Mädchen, das ist sie.«
Die Wärterin duckte sich ein wenig unter den heftigen Worten. »Lieb gehabt hab ich sie immer, Herr. Sogar jetzt noch.«
»Was?« Mit einem einzigen Schritt war Wolfgang am Bett der jungen Frau und gab ihr eine heftige Kopfnuss. »Das musst du auch«, zischte er. »Malu muss man einfach lieb haben. Und wenn du das plötzlich nicht mehr kannst, dann sag es, nimm deine paar Sachen und geh!«
Wieder weinte Marenka heftig. »Aber …«, schluchzte sie. »Aber die gnädige Frau hat …«
»Was hat die gnädige Frau?«
Marenka schniefte und sah ihren Herrn verzweifelt an. »Gesagt hat sie, von nun an soll ich die Kleine warten und nicht mehr.«
»Was heißt das?«
»Ich soll sie waschen, anziehen, füttern, zu Bett bringen. Mehr nicht.« Marenka schlug die Hände vor ihr Gesicht und heulte laut auf. »Schmusen soll ich nicht mit ihr, keine Märchen ihr mehr vorlesen, keine Spaziergänge unternehmen, sie nicht herzen und küssen. Nicht einmal auf den Schoß darf ich sie heben, wenn sie weint. Weil sie des Teufels ist, sagt die gnädige Frau. Am liebsten wäre es der Herrin wohl, wenn wir das Kind einsperren würden.«
»Hat sie das so gesagt?«
Marenka schüttelte den Kopf, legte sich nieder und schluchzte so steinerweichend, dass Wolfgang von Zehlendorf hilflos das Zimmer verließ.
Seine Frau wartete im Salon auf ihn, aber er hatte nicht die Kraft, ihr unter die Augen zu treten. Plötzlich fühlte er sich unsagbar müde und erschöpft. Er ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. In seinem Kopf herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, seine Gedanken wimmelten umher wie Ameisen. Malu, die Kleine, der Sonnenschein, sollte getötet haben. Was wog sie wohl gerade? Zwanzig Kilogramm? Nein, das war sicher zu viel. Vor sechs Wochen, an ihrem Geburtstag, hatte er sie gemessen und in den Türrahmen eine Kerbe geschnitten. Exakt einen Meter war sie damals groß gewesen. Vielleicht wog sie nur fünfzehn oder sechzehn Kilogramm. Wie viel Kraft konnte sie schon haben?
Wolfgang schüttelte den Kopf. Nein. Nie und nimmer. Er wollte und konnte nicht glauben, was seine Frau ihm erzählt hatte. Kraftlos wie ein alter Mann richtete er sich auf, fasste nach dem Geländer und schlurfte die Treppen hinab, als drücke eine ungeheuer schwere Last auf seine Schultern.
»Ich glaube es nicht«, erklärte er müde und setzte sich auf einen Sessel gegenüber der Récamiere, auf der noch immer seine Frau ruhte.
»Ja. Ich weiß. Es ist furchtbar. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir einen Teufel aufgezogen haben. Eine wilde, böse Bestie. Eine Kalamität.« Cäcilie von Zehlendorf ließ keinen Zweifel daran, dass Malu für sie die Täterin war.
»Was ist mit Ruppert?«
Wolfgang hatte die Frage leise gestellt. Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da überzog sich das blasse Gesicht seiner Frau mit Dunkelheit. Sie kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen, ihre Nasenflügel bebten.
»Nein!«, zischte sie. »Diese Frage will ich nicht gehört haben. Reicht es nicht, eine Bestie zur Tochter zu haben? Brauche ich noch einen Ehemann, der mir den Sohn schlechtreden will?« Sie warf die Arme nach oben. Die Ärmel ihres Kleides rutschten und gaben den Blick auf ihre zarte Haut frei. »Lieber Gott!«, rief sie verzweifelt. »Warum
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