Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
fehlt noch.«
»Was?«
»Du hast vor ein paar Jahren hier in Berlin meine Muster- und Entwurfsbücher gestohlen, hast die Entwürfe in einer billigen Textilfabrik nähen lassen und sie zu überhöhten Preisen unter meinem Namen verkauft.« Sie kramte in ihrer Handtasche und holte ein paar zusammengefaltete Papiere hervor. »Hier ist eine Liste, auf der meine Verluste stehen. Du wirst das Geld, das du mir auf diese Weise gestohlen hast, zurückerstatten, indem du ein Treuhandkonto für Viola anlegst. Tust du es nicht, zeige ich dich bei der Polizei und dem Gewerbeamt an.«
Ruppert starrte mit offenem Mund auf die Papiere.
Im selben Augenblick kam die Sekretärin mit der Verzichtserklärung zurück. Malu las sie kurz durch, knickte sie und steckte sie in ihre Handtasche.
»Was tust du da?«, fragte Ruppert.
»Ich bin nicht mehr so naiv, wie ich es früher einmal gewesen sein mag, Ruppert. Du wirst das Konto für Viola anlegen, wirst mir die Kopie deines Testamentes zeigen, und du wirst mir die Rechnung für ein ordentliches Begräbnis für Constanze vorlegen. Du hast bis heute Abend Zeit für alles. Ich erwarte dich in Isabels Wohnung. Wenn du bis um zwanzig Uhr nicht da gewesen bist, gehe ich zur Polizei. Anschließend fahre ich zurück nach Riga. Du wirst nie wieder etwas von mir hören und sehen. Du wirst nicht länger mein Bruder sein.« Sie lachte kurz auf. »Wir tragen ja nicht einmal mehr denselben Namen.«
Ruppert sah aus wie ein gehetztes Tier. »Und wenn ich die Papiere bringe?«
»Dann unterschreibe ich die Verzichtserklärung und wünsche dir im weiteren Leben alles Gute. Auch in diesem Falle wirst du nie wieder etwas von mir hören und sehen. Ab heute Abend, Ruppert, hast du keine Schwester mehr.« Malu stand auf, nickte ihrem Bruder flüchtig zu und verließ das Büro. »Das hast du doch immer gewollt.«
Draußen wartete Isabel auf sie. »Hast du alles geklärt?«, fragte sie.
»Noch nicht«, erwiderte Malu. »Aber das Wichtigste. Und jetzt brauche ich einen Cognac.«
Achtunddreißigstes Kapitel
Baltikum, 1926
A ls der Zug sich Riga näherte, dämmerte der Morgen. Malu hatte tief und fest geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Jetzt warf sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und bestellte bei der Deschurnaja einen Kaffee. Dann ließ sie sich auf ihrem Sitz nieder, faltete die Hände in ihrem Schoß und betrachtete die vorüberfliegende Landschaft. Äußerlich mochte sie ganz ruhig sein, doch das täuschte.
Immer wieder hatte Malu die Papiere kontrolliert, die Ruppert ihr gebracht hatte. Sie waren vollständig. Malu hatte die Verzichtserklärung unterschrieben. Mit ihrer Unterschrift hatte sie auf mehr als nur auf das Wohnrecht auf Gut Zehlendorf verzichtet. Sie hatte auf ihre Vergangenheit verzichtet. Damit war sie wirklich frei. Sie hatte keinen Bruder und keine Mutter mehr. Es gab nur noch sie, ihren Mann und ihre Kinder.
Als sie an David dachte, fühlte sich ihr Bauch an, als kribbelten darin tausend Ameisen. Lächelnd legte sie die Hand darauf.
»Ich komme, mein Liebster«, flüsterte sie. »Jetzt bin ich frei, jetzt kann ich wirklich zu dir kommen und dir die Ehefrau sein, die du verdient hast.«
Für einen Moment huschten ihre Gedanken zu Janis. Malu presste eine Hand auf ihr Herz. Dort drinnen war er. Dort drinnen würde er immer bleiben. Janis, die Liebe ihres Lebens, die unerfüllte Sehnsucht. Auch er gehörte zu ihrer Vergangenheit. Er war das Beste daran. Aber die Vergangenheit war vorüber.
Jetzt begann die Zukunft.
Der Zug fuhr in den Bahnhof Riga ein. Malu riss das Fenster herunter und beugte sich weit hinaus.
Ganz hinten sah sie David stehen, die Hände in den Taschen und die Schultern eingezogen, als wäre ihm kalt.
»David!«, rief Malu und winkte mit beiden Armen.
Er sah auf, ein Lächeln erblühte in seinem Gesicht. Mit den Lippen formte er ihren Namen.
Der Zug war noch nicht richtig zum Stehen gekommen, da sprang Malu bereits aus dem Waggon. Sie rannte ihrem Mann entgegen – direkt in seine Arme.
»Willkommen zu Hause«, flüsterte David.
»Danke«, erwiderte Malu. »Ich danke dir für alles. Ab heute beginnt unsere Zukunft.«
Karen Winter studierte Ethnologie und Sprachen. Ihre Liebe zu fremden Ländern und Kulturen lässt sie immer wieder auf Reisen gehen. Heute arbeitet sie als freie Autorin und lebt in der Nähe von Berlin.
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