Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
seiner kleinen Schuhe lag achtlos auf dem Boden. Es wollte sich seiner Mutter in die Arme werfen, doch die wandte sich ab.
»Geh weg«, zischte sie voller Abscheu. »Geh weg von mir. Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist ein Teufel!«
Zweites Kapitel
Gut Zehlendorf (Lettland), 1894
A ls der Freiherr Wolfgang von Zehlendorf sich in seine Kutsche begab, versank die Sonne hinter den Dächern von Mitau. Er legte sich eine Reisedecke über die Beine und seufzte. Von der Versammlung der lettländischen Ritterschaft hatte er sich einiges erhofft, doch seine Erwartungen waren enttäuscht worden. Der Freiherr seufzte noch einmal und dachte an seinen Sohn. Ruppert war mittlerweile sechs Jahre alt, und Wolfgang von Zehlendorf hielt es für geboten, ihn in eine Schule zu schicken. In den Schulen von Mitau aber gab es seit einiger Zeit nur Unterricht in russischer Sprache. Dazu kam, dass seit dieser Neuerung die Schulen von Russen bevölkert wurden, von ungezähmten kleinen Jungen ohne Manieren und Wertgefühl. Und die deutsche Ritterschaft hatte es nicht vermocht, vom Zaren die Genehmigung für eine einzige deutsche Schule zu erhalten. Also blieb nur der Privatunterricht. Wolfgang schauderte, wenn er daran auch nur dachte. Grässliche Gouvernanten in langweiligen dunklen Kleidern und mit spitzen Gesichtern würden zu Mittag bei Tisch sitzen. Schweizer Bonnen, die nach Kampfer und Hustenbonbons rochen, würden mit ihrem komischen Dialekt das Haus füllen, und sein Sohn würde nie aus diesem von Frauen dominierten Haushalt herausfinden.
Wenn Wolfgang von Zehlendorf ehrlich zu sich war – und das war er meist, wenn er allein in seiner Kutsche durch die baltische Landschaft fuhr –, so musste er zugeben, dass Ruppert nicht so geraten war, wie er sich das für seinen Erben erhofft hatte.
Wolfgang von Zehlendorf sah aus dem Fenster und erblickte eine Gruppe junger Birken. Dahinter erstreckte sich fruchtbarer Boden, über dem der Abendnebel hing. Knapp zwanzig Werst lag Gut Zehlendorf von Mitau entfernt. Mit der Kutsche brauchte er, je nach Witterung, gut zwei Stunden von der Stadt bis nach Hause. Zeit genug, um eine Entscheidung über die Zukunft des Jungen zu treffen.
Er muss aus dem Haus, entschied der Freiherr. Es geht nicht an, dass die Frauen ihn noch mehr verwöhnen. Er muss mit Gleichaltrigen zusammen sein. Gut möglich, dass er es schwer haben wird in den ersten Monaten. Möglich sogar, dass seine Mitschüler ihn so manches Mal verprügeln. Aber, Herr im Himmel, es ist das Beste für den Jungen.
Wolfgang von Zehlendorf hatte Rupperts Entwicklung im letzten Jahr mit Sorge betrachtet. Einmal war er dazugekommen, als der Junge ein neugeborenes Kätzchen quälte, indem er versuchte, dessen Schwanz anzuzünden. Ein anderes Mal hatte Ruppert mit der Peitsche auf einen Stalljungen eingeschlagen, weil dieser sich geweigert hatte, dem Sechsjährigen ein Pferd zum Ausritt zu satteln. Hinter dem Rücken seiner Kinderfrau schnitt er Fratzen, doch kaum kamen seine Mutter oder sein Vater hinzu, wurde aus Ruppert der liebste Junge der Welt.
Es tat weh, aber Wolfgang von Zehlendorf musste sich eingestehen, dass der Junge einen Hang zur Hinterhältigkeit und Niederträchtigkeit hatte. Die Ursache hierfür lag natürlich darin, dass seine Gattin Ruppert unmäßig verwöhnte. Zudem wurde sie nicht müde, dem Jungen zu erklären, welch unendlich großen Besitz und welche Reichtümer er einmal erben würde und welche Macht sein Wort den Dienstboten gegenüber heute schon hatte.
Wolfgang würde es nicht wagen, seiner Frau zu erklären, welche Fehler sie im Umgang mit dem Jungen beging, oder ihr gar Vorschriften zu machen. Die Kindererziehung war Sache der Frauen, trotzdem machte er sich Sorgen. Außerdem scheute er die Auseinandersetzungen mit Cäcilie von ganzem Herzen, denn sie wusste stets sehr genau, was gut und richtig war, wer etwas zu tun oder zu lassen hatte. Manchmal schien es dem Freiherrn geradezu, als ob in der Brust seiner Gattin statt eines Herzens ein Verhaltens- und Regelbüchlein für alle Lebenslagen schlug. Ihr gegenüber kam sich Wolfgang oft ein wenig beschränkt vor, ein Mann vom Lande, nur wenig besser als ein Bauer.
Der Freiherr wusste, dass es ihm an städtischem Schick mangelte, den Cäcilie im Gegensatz zu ihm in ihrer Jugend in Riga wie Nektar eingesogen haben musste. Stets beherrscht, lächelte sie über seine Ungeschicklichkeit mit der Austernzange hinweg und legte ihm bei Tisch eine Hand auf den
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