Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
gebietenden Linien« nennt – den Linien einer Gestalt, die deren Vergangenheit bestimmt haben und ihre Zukunft bestimmen werden – und die ein Künstler erfassen muss, um die ständige Veränderung im Kern seines Gegenstands einfangen zu können, sei dieser nun ein Tier in Bewegung oder ein wachsender Baum oder ein Berg, der langsam abgetragen wird.
Sie bemühen sich, ihren Abschied so leicht wie möglich zu gestalten. Doch sie kann den Gedanken nicht verdrängen, was hätte sein können. Und als sie ihm nachschaut, wie er durch den Park in Richtung Stadt ausschreitet, weiß Jemma, dass sie ihn nie mehr so sehr lieben wird wie jetzt, da sie ihn weggehen sieht.
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Seit alle Zeitungen die Geschichte von der Entführung des Arztsohnes durch Musk und Byrne bringen, fühlt Marcus O’Brien sich siegessicher. Musk und Byrne haben ihre Tarnung auffliegen lassen und werden nun schmollend irgendwo in Melbourne sitzen. Jetzt brauchte man sie nur noch aufzustöbern. Monatelang hat O’Brien den rechten Augenblick abgepasst und dabei entdeckt, dass er über eine ungeahnte Macht verfügte, die Macht, Geschichten auszuspinnen und Mythen zu nähren. Eine Macht, die sich am Ende als weitaus stärker erwies als jedes Aufgebot gut bewaffneter Männer. Jetzt wird er all die Männer bekommen, die er braucht, und in ein paar Tagen wird die Jagd vorüber sein.
Aber als er am nächsten Morgen erwacht, muss er feststellen, dass sich der Wind gedreht hat und die Geschichte in den Zeitungen nicht mehr seine Handschrift trägt. Dass in Wahrheit er zur Geschichte geworden ist und seine Tage als Geschichtenerzähler vorbei sind. Er sitzt am Küchentisch und versucht diese unverschämte Wende der Ereignisse zu verdauen, da wird mehrmals heftig an seine Tür geklopft. Dieser plötzliche Lärm verursacht Flügelschlagen und aufgeregtes Gezwitscher der erschrockenen Kanarienvögel in ihren Käfigen auf der Gartenveranda. Als O’Brien die Tür öffnet, sieht er sich dem Bulldoggengesicht des Police Commissioner gegenüber, der mit dem Morgenzug extra seinetwegen von Melbourne heraufgefahren ist. Hinter dem Commissioner, der von Polizisten flankiert wird, drängelt sich eine Schar von Männern mit Notizblöcken in ihren Händen, von denen O’Brien einige kennt.
Der Police Commissioner weigert sich, das Haus zu betreten. Er bleibt auf der Türmatte stehen und befiehlt O’Brien, seine Pistole, seine Dienstmarke und seine Uniform auszuhändigen. Sollte O’Brien Widerstand leisten, warnt er, werde er sich sofort als Insasse seines alten Gefängnisses wiederfinden.
»Ich schlage vor, Sie suchen das Weite«, fügt der Police Commissioner hinzu, ehe er geht. »Solange Sie noch Gelegenheit dazu haben.«
Als der Police Commissioner gegangen ist, bombardieren die Journalisten der verschiedenen Zeitungen ihn mit Fragen. Einen Moment lang ist Marcus O’Brien, der bis jetzt mit den meisten von ihnen zu seinem Vorteil gespielt hatte, versucht, es noch einmal zu probieren. Vielleicht schafft er es ja, die ganze Sache noch mal umzudrehen, vielleicht ist es nicht zu spät. Aber ein Blick in ihre Augen sagt ihm, dass sie wie Hunde sind, die die Witterung aufgenommen haben, und ihn in Stücke reißen werden, sollte sich nur die kleinste Gelegenheit dazu ergeben.
Er schlägt die Tür zu und zieht alle Vorhänge zu, ohne auf ihre Schreie und ihre Spötteleien einzugehen. Dann setzt er sich in seine düstere Küche, schenkt sich ein Glas Rum ein und lässt seine pochierten Eier und den Speck unangetastet. Ein Glas Grog zum Frühstück ist ihm so zur Gewohnheit geworden, dass er schon gar nicht mehr weiß, wie es einmal ohne war. Oft wacht er mitten in der Nacht schweißgebadet auf und muss nach der Flasche greifen, die neben seinem Bett steht. Aber er ist kein Trunkenbold wie sein Vater einer war. Das weiß er. Er schwankt nicht und lallt auch nicht, zeigt nicht jedem gleich seinen Missbrauch. Er feilt an seinem Hass und behält sein Ziel klar im Auge.
Nach einer Weile fällt ihm auf, dass das Klopfen an seiner Tür und seinen Fenstern aufgehört hat. Jetzt muss er sich nur noch überlegen, was mit seinen Vögeln geschieht. Lässt er sie einfach zurück, sind sie der Gnade seines Vermieters überlassen, dem es nie gepasst hat, dass er Kanarienvögel hält, und der sie sicherlich umbrächte oder verhungern ließe. Wenn er die Vögel jedoch freilässt, werden sie zur Beute der Habichte und Krähen oder könnten aus Angst, der Wildnis ausgesetzt zu sein,
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