Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
schrecklich leid.«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen«, erwidert Jemma matt. »Die Welt ist verrückt geworden.« Sie ist inzwischen davon überzeugt, dass es völlig egal ist, was sie tun, verdammt werden sie in jedem Fall. Hätten sie Henry in Red Ridge zurückgelassen, hätte die Schlagzeile vermutlich gelautet: MUSK UND BYRNE LASSEN STERBENDEN JUNGEN IM STICH. Es ist wirklich absurd, wie diese Geschichten sich offenbar von selbst zu schreiben scheinen, so absurd, dass sie schreien könnte.
Dann richtet sich Henry, befeuert von seinem Entschluss, auf. Er könne etwas tun, um die Dinge richtigzustellen, sagt er. Endlich liege es einmal in seiner Macht, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Er werde in die Praxis seines Vaters in der Collins Street gehen und darauf beharren, selbst mit der Polizei zu sprechen. Er werde diese davon in Kenntnis setzen, dass er es war, der darauf bestand, von ihnen beiden mitgenommen zu werden. Er werde aussagen, wie gut Jemma Musk und Nathaniel Byrne zu ihm gewesen seien und dass er immer dankbar sein werde. Er werde dafür Sorge tragen, dass die Polizei begreift, was sie für Fehler gemacht hat.
Nathaniel scheucht sie in den wartenden Omnibus, der sie ins Stadtzentrum bringen wird. Jemma bedauert es, keinen Schleier an ihrem Hut zu haben, und bemerkt, dass Nathaniel sich seinen Hut tiefer ins Gesicht gezogen hat. Beide starren mit leerem Blick aus dem Fenster. Henry jedoch blickt sich neugierig um, ist entzückt von den großen neuen Gebäuden und dem emsigen Treiben hier nach der Beinahe-Einsamkeit von Red Ridge. Als sie sich ihren Weg über die Gangway des Dampfers bahnten, waren sie plötzlich von einer Menschenwoge umgeben gewesen, die zum Ausgang drängelte, und Henry war von allen Seiten von Körpern bedrängt worden, was ihm – zum ersten Mal nach Jahren – das Gefühl gab, zur Menschheit zu gehören, teilzuhaben am Fluss des Lebens. Dasselbe spürt er jetzt auch im Omnibus, endlich ist er Teil eines größeren Ganzen. Erstaunt betrachtet er die in einer Reihe aufgestellt wartenden Einspänner-Droschken, die eleganten Gaslampen und mehrstufigen Telegrafendrähte, die sich entlang der Straßen von einem Pfosten zum nächsten schlingen, die adrett gekleideten Menschen, die zur Arbeit eilen. Sein Herz klopft wild in seiner Brust, während er darüber nachdenkt, was getan werden muss. Ihm kommt es vor, als hätte er sein ganzes Leben in den Kulissen auf den Moment gewartet, wo er die Bühne betreten wird. Er mag zwar nur eine kleine Nebenrolle haben, doch das ganze Drama hängt davon ab, was er als Nächstes tut.
Ihm fällt auf, dass Jemma Musk wie gebannt durchs Fenster schaut. Er folgt ihrem Blick und sieht, dass dieser auf einer Mutter mit ihrem hellbraun gelockten Kleinkind ruht, die wartend an einer Ecke stehen. Die Mutter hält das Pummelhändchen ihrer Tochter. Das Mädchen sieht nach oben und spricht. Die Frau lächelt, das Mädchen lacht, und Jemmas Gesicht zieht sich zusammen.
Jemma verfolgt sie mit ihren Blicken, als die beiden die Straße hinuntergehen und sich zwischen den Massen hindurchschlängeln. Dieser Anblick ist so unglaublich schmerzhaft, dass sie nicht genug davon bekommen kann. Wo immer sie jetzt auch hinsieht, sind Kinder. Im Omnibus und draußen auf der Straße. Sie hatte ganz vergessen, wie es ist, ihren Blick auf diese Gesichter zu richten, die nicht von dieser Welt sind, und auf diese Augen, die noch kein Misstrauen kennen. Kinder in ihren Kinderwagen oder auf den Armen ihrer Mütter oder Kinder, die voraushüpfen. Aus purer Freude hüpfen, aus Freude, ihre Körper durch den Raum zu bewegen.
Als sie das obere Ende der Collins Street erreichen, schüttelt Henry Nathaniel die Hand, bringt es aber nicht über sich, Jemma anzusehen. Er hat Angst, dass sie sieht, wie er zittert. Mehr kann er nicht tun, um die Schluchzer zurückzuhalten, die wie Sprengsätze in seiner Brust sitzen. Er sehnt sich nach ihrer Umarmung, weiß aber zugleich, dass er, wenn es dazu kommt, zusammenbrechen oder explodieren wird. Er glaubt nicht, dass sein Herz dem gewachsen wäre. Ohne sie anzusehen greift er nach ihrer Hand und küsst sie, dann läuft er die Treppe hinauf zur Praxis seines Vaters.
Sie sitzen schweigend auf einer abgelegenen Bank oberhalb eines Teichs in der Nähe der Fitzroy Gardens, denn beide haben Angst zu sprechen. Wissen jedoch, dass es gesagt werden muss.
»Wir können nicht zusammenbleiben«, erklärt Jemma schließlich.
Nathaniel
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