Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Unwirkliche erfassen möchte, das ihr dieser Anblick bietet. Ockerfarbene Staubwolken wirbeln um ihre Füße, aber Jemma bemerkt den Wind erst, als dieser eine Seite der karierten Decke anhebt, auf der die Familie sitzt, und den Obstsaft des Kindes in den Schmutz kippt. Sofort schart sich ein schwarzer Rand von Ameisen um die gelbe Lache. Die Leinenservietten werden über den steinigen Boden davongetragen, und als der Mann aufspringt, um sie festzuhalten, stolpert er über die Porzellanteller, sodass die Sandwiches wegspringen. Unterdessen versucht Jemmas Hand rastlos diesen plötzlichen Aufruhr zu skizzieren, diese in Auflösung begriffene harmonische Familienszene im Freien. Doch unbeeindruckt von den dicken zinnfarbenen Wolken, die sich hinter ihrem Rücken am Horizont zusammenballen, hält die Familie tapfer an ihrem Picknick und den mit Schmutz gepfefferten Speisen fest.
Jemma sieht den Wetterwechsel wie eine Woge über den Baumwipfeln auf sie zurollen. Der Wind reißt dem Kind das Häubchen vom Kopf, dessen seidene rosa Bänder sich mit widerstrebendem Geflatter verabschieden. Die Frau schilt das Mädchen, und das Mädchen fängt zu weinen an. Während der Mann dem Häubchen hinterherjagt, findet eine Sturmböe ihren Weg unter die weit ausladende Krinoline des Kindes, bläht den Rock und hebt ihn in die Höhe. Aufgeregt ruft die Frau nach ihrem Ehemann, der sich umdreht und seine sprachlose Tochter einen Moment lang mitten in der Luft über dem Lüftungsschacht einer verlassenen Goldmine schweben sieht. Von ihrem etwas höher gelegenen Beobachtungsposten steht für Jemma fest, dass keiner von ihnen sie rechtzeitig zu erreichen vermag. Ein weiteres Tableau – ein hutloser Mann und eine Frau mit windgepeitschtem Haar, die den Himmel beschwören, während die kleine Gestalt eines Mädchens engelhaft vorüberschwebt. Beinahe willkürlich jagt Jemmas Hand über das Blatt und hält mit schwarzen Linien das Kind fest, ehe es von der Erde verschluckt wird.
Als die Eltern über den felsigen Grund klettern, wird die Böe schwächer und beschleunigt das Absinken des Mädchens. Seine Füße verschwinden im Loch, doch dann passiert etwas Wunderbares. Der Reifrock des Mädchens bläst sich auf wie die Kuppel von Sankt Peter, senkt sich auf den Rand des Schachts, sodass es dort hängen bleibt. Halb in dieser Welt, halb in der nächsten. Das Kind ist so verdutzt, dass es keinen Laut hervorbringt, nur die Drahtreifen seines Petticoats zittern unter seinem Gewicht. Die Mutter schreit ihrer Tochter zu, ja keinen Muskel zu bewegen, überwindet dann mit einem Satz den Abstand zu ihr und packt das Mädchen an den Handgelenken, bevor die Reifen nachgeben.
Aufgeschreckt aus ihrer Trance lässt Jemma die Kohle fallen und wirft ihren Skizzenblock beiseite. Sie eilt den Bergkamm hinab und über den felsigen Boden auf die sich dicht aneinanderdrängende Familie zu, doch nur, um erkennen zu müssen, dass sie unerwünscht ist, eine Außenseiterin vor den sich schließenden Reihen. Die vorwurfsvollen Blicke sprechen für sich. Ihr ist klar, dass Protest sinnlos ist. Sie hat es gewagt, diesen verrückten Augenblick, diese beinahe fatale Kapriole der Natur zu einem passenden Gegenstand der Kunst zu machen. Wie kann sie das erklären? Zögernd kehrt sie zu ihrem Ranzen zurück, packt das Skizzenbuch ein und verschwindet im Wald.
Während des fast vier Kilometer langen Heimwegs quälen Jemma ihre geschwollenen, wundgescheuerten und heißen Füße in ihren festgeschnürten Stiefeln, und sie hält dankbar ihr Gesicht in den rauen Wind. Bevor sie in diese Gegend kam, hatte sie von dessen fruchtbarer Vulkanerde so rot wie Blut gehört; von den Obstplantagen, den Kartoffeln, den Erdbeergärten und mit saftigem Klee bestandenen Weiden; von den aus dem Felsbett sprudelnden Mineralquellen in dichten Wäldern und in den in grünes Licht getauchten und von Farnen besiedelten Schluchten. Aber die Straße von Melbourne, die sie zu den südlichen Goldfeldern führte, hatte ihr eine Szenerie gezeigt, die den äußeren Kreisen der Hölle weitaus näher kam: den ausgespienen Lehm des tauben Gesteins, die klaffenden Öffnungen der verlassenen Minen, die bis auf das niedrigste Buschwerk gerodete Erde, die Skelette verlassener Siedlungen und improvisierter Hütten, meilenweite Trostlosigkeit. Doch als sie schon fast am Verzweifeln war, war die Kutsche in eine Allee orientalischer Platanen eingebogen, eine lange Kolonnade aus Licht, hinter der sie die elegante
Weitere Kostenlose Bücher