Sehnsüchtig (German Edition)
Familie im Nebenabteil hat nicht vor, Frieden zu schliessen. Am Bahnhof ist ihr jede Bank und jeder Pflasterstein vertraut, schliesslich ist sie hier vier Jahre lang jeden Morgen in den Zug gestiegen um ins Gymnasium in die Stadt zu fahren. Schon damals träumte sie vom Tag, an dem sie nicht mehr den Zug zurück ins Dorf nehmen müsste. Die Stadt schien ihr als 18-Jährige das Mass aller Dinge zu sein. Nach einem Jahr als Au-Pair in London hatte sie es sich erst recht nicht mehr vorstellen können, zurück in ihr blau gestrichenes Kinderzimmer unter dem Dach zu ziehen. Sie wollte auf eigenen Füssen stehen, den Eltern nicht länger auf der Tasche liegen. Also zog sie mit knapp 20 in die Stadt, gründete mit Mascha und deren damaligen Freund eine WG, stand tagsüber hinter der Kasse eines Kleiderladens und nachts hinter einer Bar, um ihr Studium an der ‘Hochschule für Künste’ zu finanzieren. Nach dem Bachelor in ‚Visueller Kommunikation’ machte sie ein Praktikum bei einer Werbeagentur, reiste für ein paar Monate durch Europa, hängte danach den Master an, den sie letzten Sommer abgeschlossen hatte.
Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof steht der silberne Nissan Micra ihrer Mutter. Sie besitzt ihn schon seit Ewigkeiten. Alys fragt sich, wie ihre Mutter wohl auf Eliots Auto reagieren würde ... wahrscheinlich irritiert die Stirn runzeln. Ihr Vater hingegen würde begeistert um den Porsche herumschleichen und Eliot Löcher in den Bauch fragen. Dann würde er seine Kamera zücken und den Wagen aus allen möglichen und unmöglichen Winkeln ablichten.
Lydia Allenbach steht neben dem Nissan und blickt ihr entgegen, aufrechter Rücken, dunkel gekleidet wie immer. Ihre Vorliebe für Schwarz und Grau hat Alys eindeutig von ihr. „Hallo Alys”. Die dunkle Stimme ebenfalls. „Hallo Mama.“ Sie küsst die Wange ihrer Mutter. Sie lehnt sich etwas zurück und blickt in ihr eigenes Gesicht, einfach 30 Jahre älter. Das etwas eckige Kinn, der Mund etwas breit aber eigentlich schön geschwungen, die gerade Nase. Ein Gesicht, das andere Leute gerne „interessant” nennen. Optisch ist sie das Abziehbild ihrer Mutter. Nur die Augen hat sie von ihrem Vater, Lydias sind heller, fast grau. Und das dunkelbraune Haar kommt ebenfalls vom Vater. Lydia war früher dunkelblond. Jetzt ist der Pagenkopf grau, kinnlang, akkurat geschnitten.
„Gut gereist?“, will Lydia wissen. Ihre Lippen sind wie immer rot geschminkt.
„Ja, doch. Bis auf die streitende Familie im Nebenabteil.“
Lydia nickt nur und steigt ein. Sie verliert nie viele Worte. Lydia Allenbach ist eine beherrschte Frau, die sich viele Gedanken macht, diese aber nur selten ausspricht. Meistens hat Alys keine Ahnung was im Kopf ihrer Mutter vorgeht. Lydia geht es mit ihr vermutlich ähnlich. Vielleicht haben sie deshalb nicht besonders viel Kontakt.
Alys’ Kindheit verlief in ruhigen Bahnen. Die Ehe ihrer Eltern war und ist unaufgeregt bis harmonisch. Die Familie Allenbach streitet sich selten, dafür ist ihre Mutter zu still und ihr Vater lebt zu sehr in seiner eigenen Welt. Ist die Luft doch einmal dick, zieht er sich in sein Fotofachgeschäft zurück und kommt erst wieder zurück, wenn sich alle beruhigt haben. Alys bereitete ihren Eltern wenig Schwierigkeiten, ganz im Gegensatz zu Elin. Vielleicht hatte sich die Aufmerksamkeit der Mutter deshalb hauptsächlich auf die kleine Schwester konzentriert. Alys war die ‘Grosse, Vernünftige’, Elin, das Nesthäkchen, acht Jahre jünger und musste früher sämtliche Grenzen ausloten: Partys, Alkohol, Männer. Zurzeit ist die 20-jährige für ein Austausch-Jahr in den USA. Sie studiert Wirtschaft. Das Interesse an Zahlen hat sie von der Mutter. Lydia arbeitet als Buchhalterin in einer Firma, die mit irgendwelchen Industrieprodukten handelt. Maschinenbestandteile, Zahnräder, solche Sachen , Alys hat nie viel davon verstanden.
Das Haus ihrer Kindheit liegt an der Hortensienstrasse. Links und rechts stehen Einfamilienhäuser, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Nur die Farben der Fassaden unterscheiden sich; grau, weiss, kremfarben, zartgelb. Das Haus der Eltern ist in einem hellen Beige gestrichen, die Fensterläden sind blau. Die Strasse ist ruhig, hier darf man nur 30 fahren. Die Siedlung ist in den Dreissigerjahren entstanden, die Gärten sind grosszügig. Der Garten ist der Stolz der Mutter. Im Frühling und Sommer wetteifert sie mit den Nachbarn darum, wer die schönste Blumenpracht hervorbringt. Sie zieht
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