Sehnsüchtig (German Edition)
und trinkt. Dann richtet sie sich auf und erhascht ihren eigenen Blick im Spiegel. Die Augen der Frau im Spiegel sind ängstlich.
Als sie einige Minuten später wieder ins Wohnzimmer kommt, ist er auf ihrem Sofa eingeschlafen. Alys betrachtet ihn eine Weile. Überlegt sich, ob sie ihn wecken soll, lässt es dann aber sein. Er sieht aus, als hätte er dringend Schlaf nötig. Dann erinnert sie sich an das Telefongespräch heute Morgen. Wie er geklungen hatte. Angespannt, gestresst, an der Grenze zu unhöflich. Nein, ich wecke ihn nicht auf. Etwas Ruhe wird ihm gut tun.
Sie geht zur Ständerlampe neben dem Sofa und bewegt sich so leise wie möglich. Dimmt das Licht und setzt sich in den Sessel neben der Couch, wickelt die Arme um ihre Knie und betrachtet im Zwielicht den schlafenden Mann auf ihrem Sofa. Er liegt auf der Seite, die Beine angezogen, die Hände ineinander gelegt, nahe am Gesicht.
Eliot sieht sehr jung aus so. Die Denkerfalte auf seiner Stirn hat sich geglättet. Der Mund ist entspannt. Der Mund mit der etwas kantigen Oberlippe, die eine Spur Eigensinn in sein Gesicht bringt. Eigensinn, über den er ja durchaus verfügt, wie sie bereits mehrmals feststellen konnte. Ihn schlafen zu sehen, ist ein schöner Anblick. Sie bleibt eine ganze Weile so sitzen und hält diesen Anblick. Sie betrachtet ihn ruhig, aber mit einem seltsamen Ziehen in der Brust. Fast sehnsüchtig. Sie verschränkt ihre Finger ineinander. Sehnsucht ist kein Gefühl, das sie beim Anblick von Eliot Wagner verspüren sollte. Sie holt Luft, dann steht sie auf. Geh ins Bett.
*
Am nächsten Morgen ist er weg. Die Gläser von gestern stehen abgespült und abgetrocknet auf der Küchenablage. Alys kann kaum glauben, dass sie nicht aufgewacht ist, Eliot nicht in der Küche hat rumoren hören oder wie er die Tür hinter sich geschlossen hat. Am Kühlschrank klebt ein Zettel. Es ist eines ihrer herzförmigen roten Post-its – wahrscheinlich das erste, was er auf dem Schreibtisch gefunden hat. Die Schrift kommt ihr bekannt vor. Sie hat sie in seinen Sitzungsnotizen gesehen. Energisch und etwas kantig. Wie er eben.
Du stehst wirklich auf Herzen, nicht? Daneben hat er einen Pfeil gezeichnet, der auf ihre Reihe von herzförmigen Magneten am Kühlschrank weist. Sorry, dass ich eingeschlafen bin. Akuter Schlafmangel. Danke für den Drink und das Sofa ;-) Ich schaff nächste Woche keine Entwürfe-Sitzung mehr. Verschieben wirs aufs neue Jahr. Merry X-Mas! Wir sehen uns Silvester in der Wunderbar. Eliot.
Heute ist der 17 Dezember . Alys zählt an den Fingern die Tage bis Silvester ab und weiss gar nicht so genau, warum. Es sind vierzehn. Sie registriert ein bitteres Gefühl. Es fühlt sich nach Enttäuschung an. 14 Tage. Seit sie Eliot kennt ist das die längste Zeitspanne, in der sie ihn nicht sieht. Sie geht ins Badezimmer und duscht, aber das warme Wasser spült das Gefühl nicht richtig weg.
WEIHNACHTEN UND ANDERE DESASTER
An Heiligabend steigt Alys im Hauptbahnhof in den 10-Uhr-Zug, um für ein paar Tage zu ihren Eltern zu fahren. Wie jede Weihnachten. Sie blickt zum Fenster hinaus während der Zug mühselig aus dem Bahnhof kriecht und in jeder Kurve angestrengt ächzt. Auf der Scheibe mischt sich Regen mit Schnee und zieht Schlieren. Der Winter hängt grau vor der Scheibe. Alys’ Laune scheint die gleiche Farbe anzunehmen. Im Abteil gegenüber sitzt eine Familie mit drei kleinen Kindern. Die Eltern schweigen sich an und die Kinder streiten herzhaft. Die Mutter verdreht im Minutentakt die Augen, der Vater scheint sich weit weg zu wünschen. Ab und zu schimpft die Mutter mit den Kindern. Ihre Stimme klingt wie Fingernägel auf einer Schultafel. Nicht, dass es etwas nützen würde. Alys dreht ihren iPod lauter. Billy Talents ‘Bloody Nails and Broken Hearts’ füllt ihre Ohren. Der harte Sound über blutige Fingernägel, gebrochene Herzen und eine untreue Frau mag nicht wirklich zum Feiertag passen. Aber er übertönt die zankende Familie einigermassen wirkungsvoll.
Ihre Eltern wohnen eine gute halbe Stunde ausserhalb der Stadt, in einem Dorf mit ein paar tausend Seelen. Rund um den Dorfkern mit Brunnen, Geranientöpfen, alten Bauernhäusern und der Dorfbeiz, dem ‘Bären’, machen sich Einfamilienhausquartiere und Industrie von Jahr zu Jahr breiter. Es ist ein beliebter Wohnort für Menschen, die zum Arbeiten in die Stadt pendeln, aber doch auf dem Land leben möchten.
Alys ist froh, auszusteigen zu können, denn die
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