Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
hatte nie gehört, dass dort wieder ein Lager existierte.
GW Auf dem Rathsfeld, wo wir während des Krieges wohnten, war im Schloss Rathsfeld das Ausweichquartier des Reichssippenamtes mit der »Judenkartei« von ganz Europa. Als ich aus dem Krieg heimkehrte, fand ich im Wald ringsherum angekohlte Karteikarten, um die sich niemand kümmerte. Die Akten waren zum größten Teil verbrannt worden. Ich sammelte die Karteikarten aber nicht auf. Das hat man nicht gemacht. Man war sich der Tragweite dieser Kartei nicht bewusst, wusste nicht, was diese Kartei eigentlich bedeutete … Dann kamen die ersten sowjetischen Filme, sie waren zum Teil nicht gut. Alles wurde umgewertet. Manche der Filme spielten im Kuhstall, in der Kolchose …
CW … die waren zum Teil grauenhaft.
GW Über die haben wir unheimlich gelacht.
JS Was war darin zu sehen, der neue Mensch?
CW Ja, oder auch der große Stalin.
GW Ich hatte noch Hefte mit Bildern der Nazikunst. Als ich am Ende des Krieges als Soldat im Oderbruch stationiert war, kamen wir an dem Atelierhaus des Nazibildhauers Arno Breker 34 vorbei. Dort standen Statuen herum, Bodybuilder-Figuren, richtige Recken. Das hat mir nicht mehr imponiert, das hat mich geheilt. Die Rote Armee sammelte sie später ein, brachte sie in ihre Kaserne nach Wünsdorf und stellte sie in ihren Park.
Nach dem Krieg bekamen wir an der Schule einen neuen Direktor, den die Nazis zuvor in den Ruhestand geschickt hatten. Ein netter, alter Sozialdemokrat, der für die englische Demokratie schwärmte, was wir natürlich nicht verstanden. Auf einer Schulfeier sangen wir: »Wann wir schreiten Seit an Seit«. Dann öffneten wir den Schrank im Klassenzimmer, und uns fielen die Liederbücher aus der Nazizeit entgegen, in denen stand das Lied auch drin. Die Nazis hatten es adaptiert.
JS Dieses Lied habe ich auch in der Schule gesungen.
GW Das singen die Sozialdemokraten heute noch.
CW Die ganze Umerziehungsfeier war im Eimer!
GW Manche wehrten sich gegen das Neue. Einer schrieb groß »schulfrei« an die Tafel, obwohl das nicht stimmte. Zum Teil hatten wir auch noch dieselben Lehrer. Die richtigen Parteigenossen durften nicht mehr unterrichten, aber die anderen, die kleineren Nazis und Mitläufer, blieben weiterhin Lehrer.
JS Wie verhielten sich die Lehrer, passten sie sich sofort an die neue Zeit an? Mein Staatsbürgerkundelehrer musste nach dem Mauerfall in die Psychiatrie. Und was wurde aus den Lehrbüchern? Unsere Geschichtsbücher und das Buch über die Geschichte der SED , das wir zuvor zum Teil auswendig lernen mussten, lagen nach dem Mauerfall in den Mülltonnen. Habt ihr eure alten Bücher auch weggeworfen?
CW Natürlich!
GW In der ersten Zeit nach dem Krieg gab es keine Lehrbücher oder Lehrpläne. Es gab auch einige Lehrer, die ihre Lebensläufe gefälscht oder frisiert hatten. Nazis, die zum Teil wieder verschwanden. Ich wurde dann selbst sehr schnell Lehrer. Nach dem Schulabschluss ging ich zum Oberschulhelfer-Lehrgang, in Deutsch kam ich nicht rein, also wählte ich Biologie. In einem Vierteljahr wurden wir auf das Pensum der Oberschulklassen getrimmt. Danach unterrichtete ich in Schlotheim. Ich war nur zwei Jahre älter als die Schüler. Da herrschte eine dolle Stimmung. Es gab sehr gute Neulehrer, einer war ein ganz überzeugter Marxist. Im Kollegium wurde viel diskutiert, auch über Trotzki.
CW Bei uns in Schwerin verteilten manche Lehrer handgeschriebene Durchschläge, damit sie und wir überhaupt etwas in der Hand hatten. Dieses Material mussten wir bis zur nächsten Stunde auswendig lernen. Diejenigen, die das taten, kriegten immer eine Eins. Dann bekam ich Tuberkulose und musste in die Lungenheilanstalt. Erst 1947 ging ich nach Bad Frankenhausen an Opas Schule. Da war er aber schon weg, zur Ausbildung als Oberschulhelfer. Wir lernten uns erst später kennen, unter den größten Warnungen, ja Drohungen, was der Gerd für ein unmöglicher, arroganter und zynischer Mensch sei.
JS Wer hat da gewarnt?
CW Das ging so um. An der Schule in Frankenhausen lasen wir die ersten marxistischen Broschüren aus dem Dietz-Verlag. Sie waren auf schlechtem Papier gedruckt. Zum Beispiel: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates von Friedrich Engels. Das fand ich ausgesprochen interessant und einleuchtend. Es überzeugte mich. Die Lehrer beeinflussten uns auch in
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