Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
diese Richtung. Ich war sehr schlecht in Mathe, was mein Mathematiklehrer bis zum Schluss nicht merkte, weil ich in ihn verknallt war und er auch ein bisschen in mich …
JS Wie alt warst du denn da?
CW 19 . Da darf ich mich ja wohl verknallen! Dieser Lehrer hat mir imponiert, man merkte ihm so etwas Schicksalhaftes an … Er wusste sehr viel über Großbritannien, und wenn wir ihn auf dieses Thema bringen konnten, nahm er von Physik und Mathe Abstand. Er war in der Kommunistischen Partei und sehr überzeugt, wie uns schien. In diesem Sinne sprach er auch mit uns. Als ich dann 1949 mit zwanzig in die Partei eintrat, war er mein Bürge.
JS Augenblick! Wie kam es denn nun dazu, das ist doch ein heftiger Meinungswechsel!
CW All diese Broschüren, die ich gelesen hatte, fand ich so überzeugend. Ich dachte, die Menschen müssten nur begreifen, wie man leben und wie die Gesellschaft sein müsse. Die Menschen müssten nur verstehen, dass der Sozialismus das Beste für sie sei, und dann werde er auch funktionieren.
GW Die Naziideologie war Mythos und Propaganda, und das war jetzt Wissenschaft.
CW Wissenschaft und Vernunft und Aufklärung.
GW Die Mehrwerttheorie zum Beispiel erschien uns vollkommen plausibel. Dazu kamen die Bücher von Anna Seghers 35 und Bertolt Brecht 36 . Alles zusammen ergab innerhalb ganz kurzer Zeit eine starke Dosis Aufklärung.
JS Versuchten die Lehrer euch umzuerziehen, ihr hattet doch noch eine ganz andere Ideologie im Kopf?
CW Die verflüchtigte sich.
GW Ideologie im Kopf geht schon zu weit. Wir hatten nicht Hitler oder die Nazi-Theorien gelesen. Rein ideologisch wusste man nicht viel. Und nun war der Krieg nicht gut ausgegangen …
CW … und je mehr man auf den verschiedensten Wegen erfuhr, was in der Nazizeit wirklich geschehen war, desto mehr verflüchtigte sich diese sogenannte Ideologie. In der Zwischenphase gab es eine Zeit der Depression. Eine Art Zusammenbruch, als man all die Verbrechen nun tatsächlich glauben musste. Ein paar Monate lang habe ich unheimlich nach etwas gesucht, woran ich mich festhalten konnte. Da kam ich auch auf das Christentum. Bad Frankenhausen ist ja Thomas-Müntzer-Stadt, und an der Oberschule merkte ein Pfarrer, wie wir Schüler alle schwammen. Er sammelte diejenigen, die sich interessierten, um sich und unterrichtete einmal in der Woche Christenlehre. Er war klug, gebildet und nahm in seinen Predigten eine sehr soziale Variante des Christentums auf.
GW Mein Pastor, der mich noch in der Nazizeit konfirmiert hatte, trug unter dem Talar die SA -Uniform, manchmal lugte der Dolch hervor. In der Kirche in Frankenhausen hing ein Gemälde der Kreuzigung Jesus, das muss in der Nazizeit übermalt worden sein. Darauf stand rund um das Kreuz eine Gruppe von Männern, einer trug einen Stahlhelm, ein anderer eine SA -Uniform.
CW Als ich dort hinging, war das wieder übermalt worden.
JS Aber das Christentum schlug bei dir nicht an, Oma?
CW Ich habe mich tief darum bemüht. Jeden Sonntag lief ich in die Kirche, und ich las die Bibel. Nach ein paar Wochen ging ich zum Pastor und sagte: »Ich komme nicht mehr!« Er fragte: »Warum nicht?« Ich: »Ich kann doch nicht glauben.« Er: »Wieso nicht?«
Ich: »Ich kann zum Beispiel nicht an die unbefleckte Empfängnis oder an die Auferstehung der Toten glauben. Das sind zwei grundlegende Dinge.« Er sagte, er habe sich schon gedacht, dass ich irgendwann Zweifel bekäme. Er sei auch nicht von Anfang an ein gläubiger Christ gewesen. Er habe aber ein tiefes Erweckungserlebnis gehabt, und danach habe er glauben können. Trotzdem entließ er mich in Freundschaft. Da war diese Periode zu Ende.
Dann lasen wir die marxistischen Broschüren in der Schule, die Bücher, und ich hatte diesen Mathelehrer, der später mein Bürge wurde. Jahre darauf stellte sich heraus, dass er unter den Nazis im Goebbels-Ministerium gearbeitet hatte. Daraufhin wurde er als Schuldirektor abgesetzt. Viele bedauerten, dass er gehen musste. Er war wirklich kein übler Kerl. Bis heute glaube ich, dass er ein anständiger Mensch gewesen ist. Einmal habe ich ihn danach noch besucht. Über seine Absetzung sprachen wir nicht, aber über meine mathematische Begabung. Darüber waren wir völlig unterschiedlicher Meinung. Ich sagte: »Sie müssen doch gemerkt haben, dass ich von Mathe und Physik keine Ahnung hatte.« Er hatte es nicht
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