Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
Fluch, legte Heinos Gattin Hannelore nach. Die Sensation, die sie freiwillig preisgab, stand erneut exklusiv im Zentralorgan der Zielgruppe. »Beim Sex nimmt Heino seine Brille ab«, bekannte sie und fügte ungefragt hinzu, dass es mitunter sogar viermal pro Woche zu ehelichen Pflichtrunden komme.
Bei so viel Offenheit waren selbst abgebrühte »Bild«-Hauer sprachlos und stammelten: »Caramba, Caracho, Orgasmus.« Das passte zu den Aussagen von Frau Hannelore, wonach sich sie und ihr Mann im Bett auch ohne Wort verstehen und einfach nur fühlen würden und Heino dabei seine schwarze Sonnenbrille abnehme, weil ihn da »ja keiner erkennen muss« und ihm auf die Schulter klopfe.
Heino und Hannelore als solche sind nicht gesellschaftsfähig. Deshalb standen ihre Bekenntnisse auch nicht in der »Bunten«. Denn nur »Bild« nimmt die kleinen Leute wirklich ernst und erfüllt, so oft es nur geht, auch deren geheimste Wünsche.
Die früher beliebten arbeitslosen Busenwunder auf Seite 1 der »Bild«-Zeitung, denen einst Bohlen-Ghostwriterin Katja Kessler mit sprachlichem Witz zu Leibe rückte, müssen häufiger deutschen Berufsanfängerinnen weichen. Sie zeigen zwar wie ihre Vorgängerinnen so ziemlich alles, was sie vor sich haben und ansonsten nur ihren Partnern auf Anfrage offenbaren.Aber neu und symptomatisch für inzwischen akzeptables Verhalten in der schamfreien Zone Deutschland sind ihre Lippenbekenntnisse in aller Öffentlichkeit. Sie lassen sich für alle, die sie kennen, erkennbar vorführen mit Namen und Beruf, wofür sich die Redaktion mit 500 Euro Honorar erkenntlich zeigt. Ein der Nackten, Schönen, Guten zugeneigter Leser hat zudem die Chance, sich ihr Foto auf sein Handy herunterzuladen.
»Welt am Sonntag«-Redakteur Alan Posner kam vor Jahren in seinem Web-Log nicht von ungefähr, sondern von daher auf eine Bezeichnung, die man früher im Hause Springer nicht mal hätte flüstern dürfen. »Bild«-Chef Kai Diekmanns Buch-Attacke auf die 68er-Generation griff er auf und an: »Die 68er zwingen ihn noch heute, täglich auf Seite 1 eine Wichsvorlage abzudrucken und überhaupt auf fast allen Seiten die niedrigsten Instinkte der Bild-Leser zu bedienen, gleichzeitig aber scheinheilig auf der Papst-Welle mitzuschwimmen [...]. Man kann nicht die Bildzeitung machen und gleichzeitig in die Pose des alttestamentarischen Propheten schlüpfen, der die Sünden von Sodom und Gomorrha geißelt [...]. Einer muss es ja machen, so wie einer den Dieter Bohlen machen muss, und einer den Papst. Aber
wenn Dieter Bohlen den Papst geben würde, müsste man auch lachen, oder?«
Weil es die »Entgleisung eines einzelnen Mitarbeiters« war, der allerdings nicht entlassen wurde, war nach kurzer Zeit sein Beitrag von »Welt Online« verschwunden.
Natürlich war früher nicht alles besser. Und alle scheinbar Bessergestellten waren es natürlich auch nicht. Einem Friseur, der sich wegen seiner Kundschaft ebenfalls zu den Prominenten zählen darf, zu Höheren berufen, obwohl die Höheren von ihm eigentlich nur das eine wollten, hätte man früher geraten, es wie der bekannte deutsche Schuster zu halten und bei seinen Leisten zu bleiben.
In dem Fall bei Föhn, Schere, Haarwasser.
Weil Udo Walz, der Friseur aus Berlin, aber zu einer Marke geworden ist, darf er in verschiedenen TV-Formaten auftreten und sich selbst vermarkten. Das nützt seinem Geschäft, und es steigert seinen Stellenwert in jener Society, die sich für Gesellschaft hält.Wenn der Haarkünstler als Juror bei Top Cut seinen Dienst verrichtet, wo – na was wohl? Richtig! – die kommenden Superstars unter jungen Frisösen und Friseuren vorgeführt und getestet werden, ist das ja okay. Weil es in den Rahmen seiner Möglichkeiten passt. Wenn er dagegen in politischen Talkrunden um seine Meinung zu Krieg und Frieden und Mindestlohn und Migration gebeten wird, stehen den Verfechtern der reinen Lehre vom Schuster und seinen Leisten die Haare zu Berge. Da sitzen immer öfter viele seiner Art und reden mit, frei nach Olli Dittrich alias Dittsche: »Von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung.«
Auch in dieser Beziehung ist Udo Walz typisch für die neue Gesellschaftsordnung. Es wird nicht nach Kompetenz ausgesucht, nach Bildung, nach Wissen. Sondern danach, ob jemand bekannt genug ist, um Menschen vor den Bildschirm
zu locken oder nach »Bild« greifen zu lassen. Ausgerechnet und vor allen anderen Parteien hat das Die Linke aufgegriffen und fiel, weil zu schnell
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