Seidendrachen
außer Landes, die selbst erst vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt gebracht hatte – einen rechtmäßigen Thronfolger!
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Sieb z ehn Jahre spät e r .
Jarin – unehelicher Sohn des Herzogs von Oranien - diente immer noch als Adelspfand. Sein Vater ließ seinen rechtmäßigen Sohn Arian als Thronfolger und Heerführer erziehen. Sollte Arian vor seiner Krönung etwas zustoßen, so gäbe es immer noch einen „Ersatzsohn“, von dem niemand etwas wusste außer ihm, dem Erzbischof und den Padres , die Jarin großzogen. Die Hebamme aus Frankreich würde Stillschweigen bewahren. Anderenfalls wäre sie des Todes. Die Jesuiten hatten den Jungen und einige andere Schüler wohlhabender Adeliger und Kaufleute in allen bekannten Wissenschaften, der Kampfkunst und einigen Sprachen unterrichtet. Seiner Bildung und Erziehung nach würde er somit in jedem Herrscherhaus willkommen sein.
Aber wäre das wirklich sein Wunsch? In Kürze würde er sich entscheiden müssen, ob er weiterhin im Kloster bleiben wollte oder – dem Wunsch seines ihm unbekannten Vaters nach – am Hofe des Königs von Frankreich vorgestellt werden und eventuell als Höfling dienen sollte. Wieso redeten alle immer nur vom‚ dienen‘? Jarin war nicht der Typ dafür. Sein unbeugsamer Wille unter dem goldblonden, leicht gewellten Haar war es, der seinen schlanken Körper zu einem geschmeidigen Kämpfer trainiert hatte.
Wenn er die Schafe des Klosters hütete, deren Wolle die Mönche auf den Märkten der umliegenden Dörfer verkauften, dann hatte er Zeit und Muße, mit selbstgebastelten Holzschwertern zu hantieren und gegen imaginäre Feinde und Ungeheuer zu kämpfen. Der Glanz des Hofes lockte ihn nicht.
Ab und zu träumte er sich in ferne Länder und nahm in Gedanken an einem der legendären Kreuzzüge teil, von denen die alten Bücher in der Klosterbibliothek erzählten. Er spürte deutlich, dass er nicht hierher gehörte. Dieses abgelegene Kloster in den Ardennen konnte ihm weder Heimat noch Zukunft sein. Er spürte tief in seinem Inneren, dass er zu anderen Dingen berufen war. Doch, wie jeder junge Mann seines Alters, war ihm sein Weg noch nicht bewusst und sein ganzes Leben erschien ihm als ein einziges großes Fragezeichen.
Alles änderte sich an jenem kalten Wintermorgen, als einer der Jesuitenpater von einer langen Reise zurückkehrte. Er ritt auf einem mageren, braunen Gaul, hinter ihm trottete ein überladenes, müdes Packpferd. Dahinter folgte ein Esel, auf dem eine verhüllte Gestalt in zerrissenen Gewändern hockte. Der Atem der beiden Reiter und der Tiere gefror zu zartem Nebel, der sich mit den stetig fallenden weichen Flocken verwob.
Mühsam und umständlich stiegen der Pater und der Unbekannte im Klosterhof aus den Sätteln, als wären sie angefroren gewesen, und klopften den Schnee von ihrer Kleidung.
Neugierig starrte Jarin aus dem winzigen Fenster seiner Kammer, als er hörte, wie das hölzerne Hoftor sich öffnete und wieder schloss. In diesen kalten Monaten war außer ihm kein Eleve mehr vor Ort. Nur in den Sommermonaten nahm das Kloster Schüler auf. Jetzt war er der Jüngste. Selbst Sebastianus , der einzige Novize hier, zählte bereits über zwanzig Lenze.
Bereits vor Tagen hatte es geheißen, dass Pater Simon aus dem fernen China zurückkehren würde. Die Brüder waren in heller Aufregung. China - welch ein Abenteuer! Mit Neid und Wehmut hatte Jarin daran gedacht, doch als er jetzt diese frierenden Gestalten dort unten sah, war der Neid verschwunden. Eine unmenschlich lange Reise lag hinter den beiden. Begierig darauf, Neuigkeiten zu erfahren, hüllte der blonde Junge sich in seinen Umhang aus dichter Wolle und ging hinunter zu den anderen Brüdern, die die Neuankömmlinge umringten und freudig begrüßten.
Durch die schwankende Wand von schwarzen Kutten zwängte Jarin sich hindurch, bis er einen Blick auf die Heimkehrer werfen konnte. Pater Simon war ein älterer Herr mit gütigen, grauen Augen und wirkte mit seinem faltigen Gesicht wie ein Druide aus vergessenen Zeiten. Er hatte seinen Arm um das frierende Etwas neben ihm gelegt. Sein Mitbringsel trug die Kapuze des braunen Gewandes halb über dem Kopf, der scheu zu Boden blickte. „Das hier ist Akio“, verkündete Pater Simon mit fast väterlichem Stolz in die Runde und klopfte der schmalen Gestalt auf die Schulter, so dass sie noch ein wenig mehr in sich zusammensackte.
Das erste, was Jarins klare blaue Augen von ihr erblickten, war ein schmales Gesicht
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