Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
Vom Netzwerk:
einsetzte, war es nur noch eine Sache von Stunden, bis der Tod ein gnädiges Ende bereitete. Wenn wir hörten, dass ein Kind erkrankt war, wussten wir, was als Nächstes passieren würde. Zuerst starb das Kind, dann starben die anderen Geschwister, dann die Mutter, dann der Vater. Dieses Muster wiederholte sich immer wieder, denn eine Mutter kann sich nicht von einem kranken Kind abwenden, und ein Mann kann seine sterbende Frau nicht allein lassen. Bald gab es in jedem Dorf des Landkreises Fälle.
    Die Familie Lu zog sich aus dem Dorfleben zurück und schloss die Türen. Die Dienstmädchen verschwanden, vielleicht hatte mein Schwiegervater sie weggeschickt, vielleicht waren sie aus Angst davongelaufen. Ich weiß das bis zum heutigen Tag nicht. Wir Frauen versammelten die Kinder in unserem oberen Gemach, denn wir hielten es für den sichersten Ort. Der Säugling von Dritter Schwägerin zeigte als Erster die Symptome. Seine Stirn wurde trocken und heiß. Seine Wangen färbten sich dunkelrosa. Als ich das sah, brachte ich meine Kinder in mein Schlafzimmer. Ich rief meinen ältesten Sohn. In Abwesenheit meines Mannes hätte ich seinem Wunsch nachgeben
sollen, bei seinem Großonkel und den anderen Männern zu bleiben, aber ich ließ ihm keine Wahl.
    »Ich allein verlasse dieses Zimmer«, sagte ich meinen Kindern. »Älterer Bruder ist verantwortlich für euch, wenn ich nicht da bin. Ihr müsst ihm auf jeden Fall gehorchen.«
    Während dieser schrecklichen Zeit verließ ich jeden Tag einmal morgens und einmal abends den Raum. Da ich wusste, dass diese Krankheit von ihren Opfern auch ausgeschieden wurde, brachte ich den Nachttopf nach draußen und leerte ihn selbst aus, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass nichts aus der Grube an meine Hände, meine Füße, meine Kleider oder unseren Topf geriet. Ich holte brackiges Wasser aus dem Brunnen, kochte es ab und siebte es, damit es so klar und sauber wie möglich war. Ich fürchtete mich vor aller Nahrung, aber wir mussten ja essen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollten wir das Essen ungegart zu uns nehmen, direkt aus dem Garten? Aber wenn ich an die Jauche dachte, die wir auf den Feldern ausbrachten, und aus wie vielen Körpern sich die Krankheit ergossen hatte, wusste ich, dass das nicht gut sein konnte. Ich erinnerte mich, was meine Mutter mir immer gegeben hatte, wenn ich krank war – Congee. Ich kochte es zweimal am Tag.
    Den Rest des Tages blieben wir in meinem Zimmer eingeschlossen. Tagsüber hörten wir die Leute hin und her rennen. Nachts drangen die sporadischen Schreie der Kranken und die gequälten Schreie von Müttern zu uns durch. Morgens legte ich das Ohr an die Tür, um zu hören, wer ins Jenseits gegangen war. Die Konkubinen, die außer sich selbst niemanden hatten, der sich um sie kümmerte, starben qualvoll und einsam, einzig in Gesellschaft der Frauen, gegen die sie sich immer verschworen hatten.
    Ob Tag, ob Nacht, ich machte mir ständig Sorgen um Schneerose und meinen Mann. Wandte sie die gleichen Vorsichtsmaßnahmen
an wie ich? Ging es ihr gut? War sie tot? War ihr schwächlicher Sohn der Krankheit erlegen? War ihre ganze Familie dahingerafft worden? Und was war mit meinem Mann? War er in einer anderen Provinz oder auf der Straße gestorben? Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn einem von beiden etwas zustieß. Ich war wie gelähmt vor Angst.
    Mein Schlafgemach hatte ein Fenster, das zu hoch war, als dass ich hätte hinausschauen können. Die Gerüche der aufgedunsenen Toten vor den Häusern lagen überall in der Luft. Wir bedeckten Nase und Mund, aber es gab kein Entrinnen – nur diesen faulen Gestank, von dem uns die Augen brannten und von dem wir einen schlechten Geschmack auf der Zunge bekamen. Im Geiste hakte ich alles ab, was ich tun musste: Ständig zur Göttin beten. Die Kinder in dunkelroten Stoff hüllen. Das Zimmer dreimal täglich fegen, um die Geister zu vertreiben, die nach Opfern jagten. Ich zählte auch alles auf, was wir bleiben lassen sollten: nichts Gebratenes essen, nichts Geröstetes essen. Wenn mein Mann zu Hause gewesen wäre, kein Liebesspiel. Aber er war nicht zu Hause, und ich musste allein auf alles achten.
    Als ich eines Tages den Reisbrei kochte, betrat meine Schwiegermutter mit einem toten Huhn in den Fingern die Küche.
    »Es hat keinen Sinn, dies noch länger aufzusparen«, sagte sie mürrisch. Während sie das Huhn zerteilte und Knoblauch schnitt, warnte sie mich: »Ohne Fleisch und Gemüse werden die

Weitere Kostenlose Bücher