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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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Gefühlen zu erzählen, und die hatten ihr aus dem gleichen Grund geschrieben. Unter anderen Umständen hätte ich diese Sachen an ihrem Grab verbrannt. Doch wegen der großen Hitze und der Epidemie mussten die Toten schnell begraben werden, ohne dass man groß auf feng shui , Nushu oder die Ehrerbietung durch die Kinder hätte achten können. Ich konnte lediglich dafür sorgen, dass meine Schwiegermutter die Worte ihrer Freundinnen bei sich hatte, damit sie im Jenseits lesen und singen konnte. Sobald ich fertig war, wurde ihre Leiche zu einem eiligen Begräbnis abgeholt.
    Meine Schwiegermutter hatte lange gelebt. In dieser Hinsicht konnte ich mich für sie freuen. Nach dem Tod meiner Schwiegermutter wurde ich nun zur Vorsteherin des Haushalts, obwohl mein Mann noch nicht wieder da war. Nun würden die Schwägerinnen mir gehorchen müssen. Sie würden sich mit mir gut stellen müssen, wenn sie gut behandelt werden wollten. Nachdem die Konkubinen nun auch tot waren, freute ich mich
auf mehr Harmonie, denn eines wusste ich: Unter diesem Dach würde es keine Konkubinen mehr geben.
    Wie die Dienstmädchen bereits gespürt hatten, verließ die Krankheit unseren Landkreis wieder. Wir öffneten die Türen und machten eine Bestandsaufnahme. In unserem Haushalt hatten wir meine Schwiegermutter, meinen dritten Schwager, seine gesamte Familie und die Konkubinen verloren. Bruder Zwei und Vier hatten mit ihren Familien überlebt. In meinem Elternhaus waren Mama und Baba gestorben. Ich bedauerte nun natürlich, dass ich bei meinem letzten Besuch nicht mehr Zeit mit ihnen verbracht hatte, aber Baba und ich hatten keine enge Beziehung mehr, seit mir die Füße eingebunden worden waren, und mit Mama war es nach unserem Streit wegen der Lügen über Schneerose nie mehr wie früher gewesen. Als verheiratete Tochter bestand meine einzige Pflicht darin, ein Jahr lang um meine Eltern zu trauern. Ich versuchte meine Affenmutter dafür zu ehren, was sie mit mir und für mich getan hatte, aber mein Kummer brach mir nicht das Herz.
    Alles in allem hatten wir Glück gehabt. Onkel Lu und ich wechselten keine Worte. Das wäre unangemessen gewesen. Aber als er aus seinem Zimmer kam, war er nicht mehr der gutmütige Onkel, der untätig seinen Ruhestand genoss. Er unterrichtete meinen Sohn mit einer solchen Ernsthaftigkeit, Konzentration und Hingabe, dass wir nie mehr einen Lehrer von außen hinzuziehen mussten. Mein Sohn drückte sich auch nie vor dem Lernen, denn die Aussicht auf seine Hochzeitsnacht und den Tag, an dem sein Name auf der goldenen Liste des Kaisers erschien, gaben ihm Auftrieb. Bei Ersterer würde er seine Rolle als respektvoller Sohn erfüllen, bei Letzterem würde er aus dem Dunkel unseres kleinen Landkreises zu solchem Ruhm aufsteigen, dass er in ganz China bekannt würde.
    Doch bevor sich etwas davon erfüllte, kam mein Mann nach Hause. Ich kann nicht im Ansatz beschreiben, wie froh ich war,
als ich seine Sänfte die Straße entlangkommen sah, gefolgt von einer Prozession von ochsengezogenen Karren, die mit Säcken voller Salz und anderen Gütern beladen waren. Alles, wovor ich Angst gehabt und weswegen ich geweint hatte, würde mir nicht passieren – zumindest noch nicht. Ich wurde von der Freude mitgerissen, die alle Frauen von Tongkou zeigten, als unsere Männer die Karren abluden. Wir alle weinten – und ließen die Belastung, die Angst und den Kummer los, den wir in uns getragen hatten. Für mich – für alle von uns – war mein Mann das erste gute Zeichen, das wir seit Monaten gesehen hatten.
    Das Salz wurde im ganzen Landkreis an verzweifelte, aber dankbare Menschen verkauft. Die Erträge dieser Verkäufe befreiten uns von unseren finanziellen Sorgen. Wir zahlten unsere Steuern. Wir kauften die Felder zurück, die wir hatten verkaufen müssen. Der Rang und der Wohlstand der Familie Lu nahmen zu. Die Ernte in diesem Jahr fiel reichlich aus, so dass im Herbst noch mehr gefeiert wurde. Nach all den dunklen Tagen konnte es keine größere Freude für uns geben. Mein Schwiegervater heuerte Künstler an, die nach Tongkou kommen sollten, um noch mehr Friese unter unsere Giebel zu malen, damit unsere Nachbarn und alle, die in der Zukunft unser Dorf besuchten, von unserem Wohlstand und unserem Glück erfuhren. Ich könnte jetzt hinausgehen und sie mir ansehen: mein Mann in seiner Jacke, wie er das Boot besteigt, das ihn flussabwärts bringen soll, seine Verhandlungen mit den Händlern in Guilin, die Frauen unseres Haushalts

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