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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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eine Gänsehaut.
    Aber wie sage ich das, ohne dass es sich anhört wie bei einem Ehemann? Als ich sie anschaute, sah ich, dass ihre blasse Haut – die immer so wunderschön gewesen war – nun dicker und dunkler war. Ihre Hände – die stets so weich gewesen waren – fühlten sich rau auf meiner Haut an. Über dem Mund und in den Augenwinkeln hatte sie Falten bekommen. Die Haare hatte sie zu einem festen Knoten im Nacken zurückgesteckt. Sie waren von grauen Strähnen durchzogen. Schneerose war so alt wie ich – zweiunddreißig. In unserem Landkreis wurden Frauen häufig nicht älter als vierzig, aber ich hatte gerade meine Schwiegermutter ins Jenseits gehen sehen, und sie hatte für eine Frau, die das bemerkenswerte Alter von einundfünfzig erreicht hatte, immer noch sehr gut ausgesehen.
    An diesem Abend gab es wieder Schwein zu essen.
     
    Ich merkte es zunächst nicht, aber der äußere Bereich – die turbulente Welt der Männer – war dabei, in das Leben von Schneerose und mir einzudringen. In meiner zweiten Nacht in ihrem Haus wurden wir von schrecklichen Geräuschen geweckt. Wir liefen alle in den Hauptraum und kauerten uns verängstigt zusammen, sogar der Metzger. Rauch erfüllte den Raum. Irgendwo brannte ein Haus – vielleicht ein ganzes Dorf. Staub und Asche setzte sich auf unseren Kleidern ab. In unseren Köpfen hämmerten Metallgeklirr und Hufeschlagen. Im Dunkel der Nacht hatten wir keine Ahnung, was da vor sich ging. Spielte sich da in einem einzelnen Dorf eine Katastrophe ab, oder handelte es sich um etwas viel Schlimmeres?

    Uns wurde erst klar, dass sich ein großes Desaster anbahnte, als die Leute aus den Dörfern hinter uns flohen und ihre Höfe verließen, um in den Bergen Schutz zu suchen. Am nächsten Morgen sahen wir sie von Schneeroses Fenster aus – Männer, Frauen und Kinder auf von Hand oder von Ochsen gezogenen Karren, zu Fuß, auf Ponys. Der Metzger rannte zum Ortsrand und rief dem Strom der Flüchtlinge zu: »Was ist los? Ist ein Krieg ausgebrochen?«
    Die Leute antworteten: »Der Kaiser hat Yongming den Befehl erteilt, dass unsere Regierung gegen die Taiping eingreifen muss!«
    »Kaiserliche Truppen sind gekommen, um die Rebellen zu vertreiben!«
    »Überall wird gekämpft!«
    Der Metzger hob die Hände zum Mund wie ein Megaphon und rief: »Was sollen wir tun?«
    »Lauft weg!«
    »Die Kämpfe haben euch bald erreicht!«
    Ich war wie versteinert, überwältigt und benommen vor Panik. Warum kam mein Mann nicht, um mich zu holen? Immer wieder schalt ich mich dafür, dass ich – nach all den Jahren – ausgerechnet diesen Zeitpunkt für meinen Besuch bei Schneerose gewählt hatte. Doch so ist das Schicksal nun einmal. Man trifft Entscheidungen, die man für gut und gefahrlos hält, aber der Plan der Götter sieht anders aus.
    Ich half Schneerose, Taschen für sich und die Kinder fertig zu machen. Wir gingen in die Küche und packten einen großen Sack Reis, Tee und Branntwein zum Trinken und zur Behandlung von Verletzungen ein. Schließlich rollten wir vier von Schneeroses Hochzeitsdecken zu festen Bündeln zusammen und stellten sie neben die Tür. Alles war fertig, ich zog wieder mein seidenes Reisegewand an und ging hinaus zu der Plattform, um auf meinen Mann zu warten, aber er kam nicht. Ich
schaute auf die Straße nach Tongkou. Auch von dort flohen die Menschen, nur statt in die Berge hinter dem Dorf zu gehen, überquerten sie die Felder in Richtung Yongming. Die zwei Menschenströme – der eine in die Hügel, der andere in die Stadt – verwirrten mich. Hatte Schneerose nicht immer gesagt, die Berge wären die Arme, die uns umfingen? Wenn das so war, weshalb gingen dann die Leute aus Tongkou in die entgegengesetzte Richtung?
    Am späten Nachmittag sah ich, wie eine Sänfte die Gruppe von Tongkou verließ und den Weg nach Jintian einschlug. Ich wusste, sie kam, um mich zu holen, aber der Metzger hatte es eilig.
    »Wir müssen los!«, bellte er.
    Ich wollte hier auf meine Familie warten. Der Metzger sagte Nein.
    »Dann gehe ich eben der Sänfte entgegen«, sagte ich. So oft hatte ich an meinem Gitterfenster gesessen und mir vorgestellt, hierher zu laufen. Weshalb sollte ich denn jetzt meiner Familie nicht entgegengehen können?
    Der Metzger fuhr mit der Hand durch die Luft, damit ich kein weiteres Wort mehr sagte. »Es kommen viele Männer. Wisst Ihr, was die mit einer Frau machen, die allein ist? Wisst Ihr, was Eure Familie mit mir macht, wenn Euch etwas passiert?«
    »Aber

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