Seidenfächer
Bruder?
Meine Füße taten mir weh wie damals beim Einbinden, und jeder Schritt jagte mir Schmerzen die Beine hoch. Doch ich war im Vergleich noch gut dran. Ich sah Frauen meines Alters und jüngere – Frauen in ihren Reis-und-Salz-Tagen -, deren Füße unter der Belastung durch das Laufen gebrochen oder an einem Stein zersplittert waren. Vom Knöchel an aufwärts waren diese Frauen unversehrt, dennoch waren sie völlig verkrüppelt. Sie lagen reglos da, weinten nur und warteten, bis sie vor Durst, Hunger oder Kälte starben. Doch wir liefen weiter, ohne uns auch nur einmal umzusehen, vergruben die Scham in unseren leeren Herzen und ließen die Geräusche von Todeskampf und Kummer möglichst nicht an uns heran.
Als die zweite Nacht hereinbrach und unsere Welt wieder schwarz wurde, umfing uns Mutlosigkeit. Habseligkeiten wurden zurückgelassen. Menschen wurden von ihren Familien getrennt. Ehemänner suchten nach ihren Frauen. Mütter riefen nach ihren Kindern. Es war Spätherbst, die Zeit, in der man mit dem Füßebinden anfängt, und so begegneten wir häufig jungen Mädchen, denen die Knochen erst vor kurzem gebrochen waren und die nun genauso zurückgelassen wurden wie Lebensmittel, Kleidung, Wasser, Reisealtäre, Brautgeschenke und Familienschätze. Wir sahen auch kleine Jungen – dritte, vierte oder fünfte Söhne -, die jeden Vorüberkommenden um Hilfe anflehten. Aber wie kann man anderen helfen, wenn man selbst weiter muss, an der einen Hand das Lieblingskind, die andere fest im Griff des Ehemanns? Wenn du Angst um dein Leben hast, dann denkst du nicht an andere. Du denkst nur an die Menschen, die du liebst, und selbst das ist vielleicht nicht genug.
Hier gab es keine Glocken, die uns die Zeit verkündeten, aber es war dunkel, und wir waren unbeschreiblich müde. Wir waren
nun über sechsunddreißig Stunden gelaufen – ohne Pause, ohne Essen, und nur ab und an gab es einen Schluck Wasser. Immer wieder hörten wir entsetzliche, lang anhaltende Schreie. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, wo sie herkamen. Es wurde kälter. Um uns bildete sich Reif auf den Blättern und Zweigen. Schneerose trug ihre Indigobaumwolle und ich meine Seide. Das würde uns beiden keinen großen Schutz vor dem bieten, was uns bevorstand. Die Steine unter unseren Füßen wurden rutschig. Die Mutter des Metzgers zwischen uns stolperte. Sie war eine schwache alte Frau, aber ihr Rattencharakter hatte den Willen zu leben.
Der Pfad war schließlich nur noch etwa dreißig Zentimeter breit. Rechts ragte der Berg – man konnte gar nicht mehr Hügel dazu sagen – so steil auf, dass die Felswand unsere Schultern berührte, während wir im Gänsemarsch hintereinander her gingen. Links tat sich ein Abgrund auf. Ich konnte nicht sehen, was dort unten lag. Aber viele Frauen mit gebundenen Füßen gingen vor mir und hinter mir auf dem Pfad. Wir schwankten wie Blumen in einem Orkan. Unsere Füße waren nicht der einzige Schwachpunkt. Unsere Beinmuskeln – die noch nie so hart arbeiten mussten – schmerzten, zitterten, zuckten und zogen sich in Krämpfen zusammen.
Eine Stunde lang liefen wir hinter einer Familie her – Vater, Mutter und drei Kinder -, bis die Frau auf einem Stein ausrutschte und in den schwarzen Abgrund unter uns fiel. Ihr Schrei war lang und laut, bis er urplötzlich verstummte. Wir hörten schon die ganze Nacht Menschen auf diese Art sterben. Von da an hangelte ich mich mit beiden Händen weiter. Ich legte immer eine Hand über die andere, hielt mich an Gräsern fest und ließ mir die Hände von den scharfen Kanten, die aus der Wand zu meiner Rechten ragten, aufreißen. Ich würde alles tun, um nicht auch zu einem solchen Schrei in der Nacht zu werden.
Wir kamen zu einer geschützten Mulde. Die Berge hoben
sich um uns herum vom Himmel ab. Kleine Feuerstätten brannten. Wir waren hoch oben, doch in diesem Kessel konnten die Taiping den Feuerschein nicht sehen, zumindest hofften wir das. Vorsichtig tasteten wir uns ebenfalls in die Senke vor.
Im Schein des Feuers sah ich nur Kindergesichter, vielleicht weil ich meine Familie nicht bei mir hatte. Ihre Augen waren glasig und leer. Vielleicht hatten sie eine Großmutter oder einen Großvater verloren. Vielleicht hatten sie eine Mutter oder eine Schwester verloren. Sie hatten alle Angst. Kein Mensch sollte je ein Kind in einem solchen Zustand sehen müssen.
Wir hielten an, als Schneerose drei Familien aus Jintian entdeckte, die einen vergleichsweise geschützten Fleck unter
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