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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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…«
    »Lilie«, fiel Schneerose ein, »komm mit uns. Wir sind nur ein paar Stunden weg, dann schicken wir dich zu deiner Familie. Es ist besser, jetzt in Sicherheit zu sein.«
    Der Metzger hob seine Mutter, seine Frau, die jüngsten Kinder und mich in den Karren. Als er und der älteste Sohn uns anschoben, drehte ich mich zu den Feldern hinter Jintian um. Flammen schlugen in die Luft, und Rauchwolken stiegen auf.
    Schneerose reichte ihrem Mann und dem ältesten Sohn immer
wieder Wasser. Es war mittlerweile richtig Herbst geworden, und als die Sonne unterging, fröstelte uns alle, aber Schneeroses Mann und Sohn schwitzten, als wäre es ein Sommertag. Ohne zu fragen sprang Frühlingsmond von dem Karren und nahm ihren kleinen Bruder mit. Sie trug den Jungen zuerst auf der Hüfte, dann auf dem Rücken. Schließlich setzte sie ihn auf den Boden, nahm ihn an der Hand und legte die andere Hand auf den Karren.
    Der Metzger versicherte seiner Frau und seiner Mutter, dass wir bald anhalten würden, aber wir hielten nicht. In dieser Nacht waren wir Teil eines Zugs des Elends. Zur Zeit der allertiefsten Dunkelheit, kurz vor Tagesanbruch, erreichten wir die erste richtige Steigung. Der Metzger spannte alle Gesichtsmuskeln an, seine Adern traten hervor, und seine Arme zitterten, als er versuchte, den Karren bergauf zu schieben. Schließlich ging es nicht mehr, und er brach hinter uns zusammen. Schneerose rutschte an den Rand des Karrens, hängte die Beine kurz über die Seite und ließ sich fallen. Sie sah mich an. Ich erwiderte ihren Blick. Der Himmel hinter uns war rot von Feuer. In Anbetracht der Geräusche, die der Wind mit sich trug, stieg ich ebenfalls aus dem Karren. Schneerose und ich banden uns jede zwei Decken auf dem Rücken fest. Der Metzger warf sich den Sack Reis über die Schulter, und die Kinder trugen so viel von den anderen Nahrungsmitteln wie möglich. Ich überlegte. Wenn wir nur ein paar Stunden lang weg sein würden, weshalb hatten wir dann eigentlich so viel zu essen mitgenommen? Ich würde meinen Mann und meine Kinder offenbar mehrere Tage lang nicht sehen. In der Zwischenzeit würde ich hier draußen sein – den Elementen ausgeliefert, zusammen mit dem Metzger. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, um mich zu fassen. Ich konnte nicht zulassen, dass er mir meine Schwäche anmerkte.
    Zu Fuß gingen wir nun mit den anderen mit. Schneerose und ich nahmen die Mutter des Metzgers am Arm und zogen sie den
Berg hinauf. Sie ließ sich nur schwer schleppen, aber das sah ihrem Rattencharakter nur ähnlich! Als Buddha von der Ratte verlangte, dass sie seine Lehre verbreitete, versuchte das hinterlistige Wesen, einfach auf dem Pferd mitzureiten. Das Pferd weigerte sich klugerweise, und deshalb haben die beiden Zeichen seither nie gut zusammengepasst. Doch was blieb uns zwei Pferden auf diesem fürchterlichen Weg in dieser schrecklichen Nacht anderes übrig?
    Die Männer um uns herum machten verbissene Gesichter. Sie hatten ihre Häuser und ihr ganzes Auskommen zurückgelassen und fragten sich, ob sie bei ihrer Rückkehr nur noch Aschehaufen vorfinden würden. In den Gesichtern der Frauen sah man Spuren von Tränen, Tränen der Angst und der Schmerzen, weil sie in einer Nacht weiter gelaufen waren als in ihrem ganzen Leben seit dem Füßebinden. Die Kinder klagten nicht. Sie hatten zu große Angst. Wir standen erst ganz am Anfang unserer Flucht.
    Spät am nächsten Nachmittag – wir hatten nicht ein einziges Mal gerastet – verengte sich der Weg zu einem Pfad, der sich immer steiler nach oben wand. Zu vieles, was wir sahen, schmerzte unsere Augen. Zu vieles, was wir hörten, tat uns in den Ohren weh. Manchmal kamen wir an alten Männern oder Frauen vorbei, die sich zur Rast hingesetzt hatten, um nie wieder aufzustehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in unserem Landkreis jemals sehen würde, wie Eltern einfach zurückgelassen wurden. Oft hörten wir im Vorbeigehen, wie sie noch einen Wunsch murmelten – die letzten Worte an einen Sohn oder eine Tochter, die nun als allerletzter Trost wiederholt wurden. »Lasst mich hier. Kommt morgen wieder, wenn das alles vorbei ist.« Oder: »Geht nur zu. Rettet Eure Söhne. Denkt daran, zum Frühlingsfest einen Altar für mich aufzustellen.« Immer wenn wir an so jemandem vorbeikamen, musste ich an meine Mutter denken. Nur mit ihrem Stock als Stütze hätte sie das nicht geschafft.
Hätte sie uns auch darum gebeten, sie zurückzulassen? Hätte Baba sie verlassen? Älterer

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