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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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für uns zu graben?‹ ›Ich habe keine Seide‹, sagte seine Mutter. ›Kannst du mir welche kaufen?‹ ›Ich habe viele Jahre für unsere Eltern gesorgt‹, sagte der jüngere Bruder. ›Wirst du mich für die Zeit bezahlen, die ich damit verbracht habe?‹ Der Mandarin dachte daran zurück, wie schlecht sie ihn behandelt hatten. Er stieg wieder in seine Sänfte und fuhr nach Guilin, wo er heiratete, viele Söhne bekam und ein sehr glückliches Leben führte.«
    » Waaa ! Mit solchen Geschichten ruiniert Ihr das Leben eines Jungen, das bereits ruiniert ist!« Die alte Frau spuckte wieder ins Feuer und funkelte mich böse an. »Ihr macht ihm Hoffnung, wo es keine gibt. Warum tut Ihr das?«
    Ich kannte die Antwort, aber dieser alten Rattenfrau würde ich sie nie verraten. Dies waren keine normalen Umstände, ich weiß, aber jetzt, wo ich von meiner eigenen Familie getrennt war, brauchte ich jemanden, um den ich mich kümmern konnte. Im Geiste sah ich meinen Mann als Wohltäter dieses Jungen. Warum nicht? Wenn mir Schneerose hatte helfen können, als wir Mädchen waren, warum sollte dann nicht meine Familie dabei helfen, die Zukunft dieses Jungen zu ändern?
     
    Bald gab es in den Hügeln um uns herum immer weniger Tiere. Sie wurden entweder von den vielen Leuten aus ihrem Revier vertrieben, oder sie starben – wie so viele von uns – an den Folgen des grausamen Winters. Die Männer – allesamt Bauern – wurden schwächer. Sie hatten nur mitgebracht, was sie tragen
konnten, und als das ausging, mussten sie und ihre Familien hungern. Viele Männer baten ihre Frauen, wieder hinunterzugehen, um Vorräte zu holen. Wie du weißt, wird in unserem Landkreis Frauen im Krieg nichts getan, deshalb werden sie bei Aufständen häufig ausgeschickt, um Nahrung, Wasser oder sonstige Vorräte zu holen. Wenn einer Frau bei Feindseligkeiten doch etwas angetan wird, führt das zu einer Eskalation der Kämpfe, aber weder die Taiping noch die Soldaten in der Großen Hunan-Armee kamen aus dieser Gegend. Sie kannten die Gebräuche des Yao-Volks nicht. Außerdem, wie sollten die Frauen, vom Hunger geschwächt und unsicher auf ihren gebundenen Füßen, im Winter den Berg hinunterlaufen und Proviant zurückbringen?
    Deshalb machte sich eine kleine Gruppe Männer auf. Vorsichtig wagten sie sich den Berg hinunter und hofften, in den Dörfern, die wir verlassen hatten, Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Sachen zu finden. Nur wenigen von ihnen gelang die Rückkehr, und sie erzählten, dass sie mit angesehen hatten, wie ihre Freunde enthauptet und ihre Köpfe auf Stangen gespießt worden waren. Die Witwen dieser Männer waren fassungslos über diese Nachricht und begingen Selbstmord: Sie stürzten sich den Felsen hinunter, den sie mit so großer Mühe erklommen hatten, sie schluckten die brennende Glut des Abendfeuers, sie schnitten sich die Kehle durch oder hungerten sich langsam zu Tode. Diejenigen, die nicht diesen Weg wählten, entehrten sich noch mehr, indem sie ein neues Leben mit anderen Männern an anderen Feuern suchten. Offenbar vergaßen manche Frauen in den Bergen die Regeln der Witwenschaft. Auch wenn wir arm sind, auch wenn wir jung sind, auch wenn wir Kinder haben, ist es besser zu sterben, unseren Männern treu zu bleiben und uns unsere Tugend zu erhalten, als Schande über ihr Andenken zu bringen.
    Da meine Kinder nicht hier waren, beobachtete ich die von
Schneerose genau. Ich sah, wie sie von ihr beeinflusst worden waren, ich erfuhr durch sie mehr über Schneerose, und ich verglich meine Kinder mit ihren – weil ich meine so schrecklich vermisste. Bei mir zu Hause hatte unser ältester Sohn bereits seinen rechtmäßigen Platz eingenommen, und eine strahlende Zukunft lag vor ihm. In dieser Familie hatte Schneeroses ältester Sohn einen Rang inne, der sogar noch niedriger war als der seiner Mutter. Niemand liebte ihn. Er schien verloren. Doch für mich ähnelte er meiner laotong am meisten. Er war sanftmütig und feinfühlig. Vielleicht hatte sie sich genau deshalb so hartherzig von ihm abgewandt.
    Mein zweiter Sohn war ein braver und kluger Junge, aber er war nicht so wissbegierig wie mein erster Sohn. Ich stellte mir vor, dass er sein ganzes Leben lang bei uns wohnte, dass er eine Braut fand, Kinder zeugte und für seinen älteren Bruder arbeitete. Schneeroses zweiter Sohn hingegen war der strahlende Stern seiner Familie. Er war gebaut wie sein Vater – klein und stämmig, mit starken Armen und Beinen. Der Junge

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