Seidenfächer
anderen, bis wir sie zurückverlangten. Sie steckte sich heimlich Essen in den Ärmel und schob sich verstohlen verbrannte Fleischstücke in den Mund, wenn sie dachte, wir würden nicht hinsehen. Man hört oft, dass Ratten sehr sippenbewusst sind. Wir stellten das jeden Tag wieder fest. Die ganze Zeit schmeichelte sie ihrem Sohn und manipulierte ihn, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Er tat, was jeder gute Sohn tun würde. Er gehorchte. Als diese alte Frau also ständig darauf bestand, dass sie mehr zu essen brauchte als ihre Schwiegertochter, sorgte er dafür, dass sie und nicht seine Frau etwas bekam. Da ich selbst eine gehorsame Tochter war, sah ich das ein, deshalb teilte ich meine Portion von da an mit Schneerose. Als wir dann eines Tages am Boden des Reissacks angekommen waren, verlangte die Mutter des Metzgers, dass der älteste Sohn nichts von dem abbekommen sollte, was der Metzger erlegt oder gesammelt hatte.
»Es ist zu wertvoll, um es an jemanden zu verschwenden, der so schwach ist«, sagte sie. »Wenn er stirbt, können wir alle nur froh sein.«
Ich betrachtete den Jungen. Er war elf in diesem Jahr, genauso
alt wie mein ältester Sohn. Er starrte seine Großmutter aus versunkenen Augen an, zu hilflos, um für sich zu kämpfen. Sicherlich würde Schneerose für ihn sprechen. Immerhin war er der erste Sohn. Doch meine Weggefährtin liebte diesen Jungen nicht, wie sie es hätte tun sollen. Selbst in diesem schrecklichen Moment, in dem er dem sicheren Tod überantwortet wurde, ruhte ihr Blick nicht auf ihm, sondern auf ihrem zweiten Sohn. So klug, widerstandsfähig und stark der zweite Junge auch war, ich konnte nicht zulassen, dass einem ältesten Sohn so etwas widerfuhr. Es verstieß gegen alle guten Sitten. Was sollte ich meinen Vorfahren antworten, wenn sie fragten, warum ich das Kind hatte sterben lassen? Wie würde ich diesen armen Jungen begrüßen, wenn ich ihn im Jenseits sah? Als ältestem Sohn stand ihm mehr Essen zu als allen von uns, den Metzger inbegriffen. Also teilte ich von nun an meine Portion mit Schneerose und ihrem Sohn. Als dem Metzger klar wurde, was da vor sich ging, schlug er erst den Sohn und dann seine Frau.
»Dieses Essen ist für Dame Lu.«
Bevor einer von ihnen antworten konnte, fiel seine Rattenmutter ein: »Sohn, warum gibst du dieser Frau überhaupt etwas zu essen? Sie ist nur eine Fremde für uns. Wir müssen an unser eigenes Blut denken – an dich, deinen zweiten Sohn und an mich.«
Der erste Sohn oder Frühlingsmond, die beide bisher nur Reste bekommen hatten und mit jedem Tag schwächer wurden, wurden natürlich nicht erwähnt.
Ausnahmsweise fügte sich der Metzger diesmal nicht dem Druck seiner Mutter.
»Dame Lu ist unser Gast. Wenn ich sie lebendig zurückbringe, bekommen wir vielleicht eine Belohnung.«
»Geld?«, fragte seine Mutter.
Eine ganz typische Rattenfrage. Diese Frau konnte ihre Habgier nicht verbergen.
»Es gibt Dinge jenseits von Geld, die Meister Lu für uns tun kann.«
Die Augen der alten Frau verengten sich zu Schlitzen, während sie darüber nachdachte. Bevor sie etwas sagen konnte, warf ich ein: »Wenn es eine Belohnung geben soll, dann brauche ich eine größere Portion. Ansonsten« – und hier verzog ich das Gesicht zu einer der scheußlichen Grimassen, die ich von den Konkubinen meines Schwiegervaters in Erinnerung hatte – »werde ich sagen, dass ich von dieser Familie nicht gastfreundlich behandelt wurde und nur Habsucht, Rücksichtslosigkeit und gemeinem Benehmen begegnet bin.«
Ich ging ein unglaubliches Risiko ein an diesem Tag! Der Metzger hätte mich sofort aus der Gruppe verstoßen können. Stattdessen bekam ich trotz der endlosen Beschwerden seiner Mutter die größten Portionen, die ich dann mit Schneerose, ihrem ältesten Sohn und Frühlingsmond teilen konnte. Doch wir hatten so großen Hunger! Wir unterschieden uns schließlich kaum mehr von den Toten – wir lagen den ganzen Tag reglos mit geschlossenen Augen da, atmeten so flach wie möglich und versuchten, alle Reserven, die wir noch hatten, zu nutzen. Krankheiten, die zu Hause als harmlos galten, dezimierten weiterhin unsere Zahl. Mit derart wenig Nahrung, Energie, heißem Tee oder stärkenden Kräutern schaffte es niemand, gegen diese Bedrohungen anzukämpfen. Während immer mehr den Krankheiten erlagen, hatten nur noch wenige die Kraft, die Leichen wegzuschaffen.
Schneeroses ältester Sohn suchte meine Gesellschaft, wann immer es möglich war. Er war zwar
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