Seidenfächer
nach meinen Brüdern und ihren Familien und nach Älterer Schwester und ihrer Familie zu suchen. Ich hoffte, dass sie ebenfalls hier waren, aber wie sollte ich sie unter den zehntausend anderen finden, die sich hier oben in den Bergen verteilt hatten? Jeden Tag legte ich mir eine der Decken um die Schultern und machte mich vorsichtig auf. Ich markierte mir stets den Weg, denn wenn ich nicht zu Schneeroses Familie zurückfand, würde ich sicher umkommen, das stand fest.
Eines Tages – vielleicht zwei Wochen nach Beginn meiner Suche – stieß ich auf eine Gruppe aus dem Dorf Getan, die sich unter einen Felsüberhang gekauert hatte. Ich fragte sie, ob sie Ältere Schwester kannten.
»Ja, ja, wir kennen sie!«, zwitscherte eine der Frauen.
»Wir wurden in der ersten Nacht von ihr getrennt«, sagte ihre Freundin. »Wenn Ihr sie findet, sagt ihr, sie soll zu uns kommen. Eine Familie können wir noch unterbringen.«
Doch eine andere – sie schien die Anführerin zu sein – wies mich darauf hin, dass sie nur Platz für Leute aus Getan hatten, falls ich mir da irgendwelche Hoffnungen machen sollte.
»Ich verstehe«, sagte ich. »Aber wenn Ihr sie seht, könntet Ihr ihr sagen, dass ich sie suche? Ich bin ihre Schwester.«
»Ihre Schwester? Seid Ihr etwa Dame Lu?«
»Ja«, antwortete ich misstrauisch. Wenn sie glaubten, ich könnte ihnen irgendetwas geben, dann täuschten sie sich.
»Männer haben nach Euch gesucht.«
Bei diesen Worten schlug mir das Herz bis zum Hals.
»Wer war das? Meine Brüder?«
Die Frauen warfen sich Blicke zu, dann musterten sie mich. Die Anführerin ergriff wieder das Wort. »Sie wollten auf keinen Fall sagen, wer sie sind. Ihr wisst doch, wie es hier oben zugeht. Einer von ihnen war der Meister. Ich würde sagen, er war gut
gebaut. Seine Schuhe und Kleider waren von guter Qualität. Die Haare sind ihm in die Stirn gefallen, so ungefähr …«
Mein Mann! Das musste mein Mann sein!
»Was hat er gesagt? Wo ist er jetzt? Wie...«
»Das können wir Euch nicht sagen, aber wenn Ihr die Dame Lu seid, dann sollt Ihr wissen, dass ein Mann nach Euch sucht. Macht Euch keine Sorgen.« Die Frau langte hoch und tätschelte mir die Hand. »Er wollte wiederkommen.«
Doch sosehr ich auch suchte, so eine Geschichte hörte ich nie wieder. Bald gelangte ich zu dem Schluss, dass diese Frauen nur ihre eigene Verbitterung gegen mich gekehrt hatten, doch als ich wieder zu der Stelle kam, wo ich auf sie gestoßen war, fand ich andere Familien unter dem Vorsprung sitzen. Nach dieser enttäuschenden Entdeckung ging ich zurück in mein Lager und spürte nur noch tiefe Verzweiflung. Ich war zwar die Dame Lu, aber ansehen konnte mir das niemand. Meine lavendelfarbene Seide, die kunstvoll mit Chrysanthemen bestickt war, war schmutzig, an manchen Stellen gar zerrissen, während meine Schuhe schwarz von meinem Blut waren und abgewetzt durch den täglichen Gebrauch im Freien. Ich konnte mir nur vorstellen, was Sonne, Wind und die Kälte mit meinem Gesicht gemacht hatten. Wenn ich jetzt mit meinen achtzig Jahren zurückblicke, weiß ich, wie frivol und dumm es von mir war, mich um Fragen der Eitelkeit zu scheren, während doch der Nahrungsmangel und die bittere Kälte unsere wahren Feinde waren.
Schneeroses Mann wurde der Held unserer kleinen Gruppe. Da er einen unreinen Beruf ausübte, verrichtete er viele der Arbeiten, die getan werden mussten, ohne sich zu beklagen und ohne Dank dafür zu bekommen. Er war im Zeichen des Hahns geboren – schön, kritisch, aggressiv und tödlich, wenn es sein musste. Grobheit und Härte waren sein Schlüssel zum Überleben. Als Hahn lag es in seiner Natur, auf der Erde nach Nahrung
zu suchen; er konnte jagen, ein Tier ausnehmen, es über dem offenen Feuer braten und die Häute trocknen, damit wir es warm hatten. Er konnte schwere Lasten von Feuerholz und Wasser tragen. Er wurde niemals müde. Hier oben galt er nicht als unrein; er war unser Wächter und Meister. Schneerose war stolz darauf, dass er sich als Anführer erwies, und ich war – und bin es noch – unglaublich dankbar, dass ich durch seine Tatkraft am Leben blieb.
Aiya! Aber seine Rattenmutter! Die ganze Zeit über drückte sie sich herum. Selbst in dieser verzweifelten Lage klagte und beschwerte sie sich ständig, sogar über die unwichtigsten Dinge. Immer saß sie am nächsten beim Feuer. Die Decke, die sie in der ersten Nacht bekommen hatte, ließ sie nie los, und bei jeder Gelegenheit schnappte sie sich eine von den
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