Seidenfächer
Schöner Mond abgewehrt hatten. Ich musste diesen neuen Geist loswerden, ihn davon abhalten, sich
je wieder an meinen Gedanken gütlich zu tun oder mich mit gebrochenen Liebesschwüren zu peinigen. Ich räumte meine Körbe, Truhen, Schubladen und Regale aus und suchte alle Geschenke, die mir Schneerose über die Jahre gemacht hatte. Ich sammelte alle Briefe zusammen, die sie mir in unserem gemeinsamen Leben geschrieben hatte. Es war gar nicht leicht, alles zu finden. Unser Fächer war weg, und außerdem... nun, vieles fehlte einfach. Aber alles, was ich fand, legte oder klebte ich in den Blumenturm, dann verfasste ich einen Brief:
Du kanntest einst mein Herz, jetzt kennst du nichts von mir. Ich verbrenne all deine Worte und hoffe, sie verschwinden in den Wolken. Du, die du mich betrogen und verlassen hast, bist auf ewig aus meinem Herzen verbannt. Bitte, bitte, lass mich in Ruhe.
Ich faltete das Papier zusammen und schob es durch das winzige Gitterfenster in das obere Gemach des Blumenturms. Dann zündete ich den Turm unten an und gab, wo nötig, Öl dazu, um die Taschentücher, Webereien und Stickereien ganz zu verbrennen.
Doch Schneerose verfolgte mich hartnäckig. Wenn ich meiner Tochter die Füße band, war es, als wäre Schneerose mit mir im Zimmer, hätte mir eine Hand auf die Schulter gelegt und flüsterte mir zu: »Pass gut auf, dass keine Falten in die Bandagen geraten. Zeig deiner Tochter deine Mutterliebe.« Ich sang, um ihre Worte zu übertönen. Nachts spürte ich manchmal ihre imaginäre Hand auf meiner Wange und konnte nicht einschlafen. Ich lag wach, war wütend auf mich und auf sie und dachte: Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich. Du hast dein Treueversprechen gebrochen. Du hast mich betrogen.
Zwei Menschen hatten am meisten unter meinem Zustand zu leiden. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass der eine
meine Tochter war. Und ich bedaure sehr, dass der zweite die alte Frau Wang war. Meine Mutterliebe war sehr stark, und als ich Jade die Füße band, war ich unglaublich vorsichtig. Ich hatte dabei nicht nur im Kopf, was Dritter Schwester passiert war, sondern bedachte auch die vielen Lektionen meiner Schwiegermutter. Sie hatte mir genau erklärt, wie man alles richtig machte, um das Risiko einer Infektion, von Missbildungen oder gar des Todes zu senken. Doch ich übertrug auch den Schmerz, den ich wegen Schneerose empfand, von meinem Körper auf die Füße meiner Tochter. Waren meine Lilienfüße denn nicht die Quelle alles Guten und Schlechten, was mir widerfahren war?
Obwohl die Knochen meiner Tochter biegsam waren und sie selbst fügsam, weinte sie erbärmlich. Ich hielt das nicht aus, auch wenn wir gerade erst angefangen hatten. Ich wandte meine Gefühle zum Nutzen und trieb meine Tochter durch unser oberes Gemach. An den Tagen, an denen ihre Füße neu eingebunden wurden, wickelte ich ihre Bandagen noch enger, und ich schalt sie – nein, ich brüllte sie laut an – und gebrauchte dabei die gleichen Worte, die mir meine Mutter damals eingedrillt hatte. »Eine echte Dame lässt nichts Hässliches in ihr Leben. Nur durch Schmerzen erlangst du Schönheit. Ich wickle, ich binde, aber du wirst die Belohnung bekommen.« Ich hoffte, durch diese Maßnahmen ein bisschen von dieser Belohnung ernten zu können und den Frieden zu finden, den meine Mutter versprochen hatte.
Unter dem Vorwand, das Beste für Jade zu wollen, wandte ich mich an andere Frauen in Tongkou, die ihren Töchtern gerade die Füße banden. »Wir leben alle hier«, sagte ich. »Wir haben alle gute Familien. Sollten unsere Töchter nicht Schwurschwestern werden?«
Die Füße meiner Tochter wurden beinahe so klein wie meine. Doch bevor ich das endgültige Ergebnis gesehen hatte,
stattete mir Ehrenwerte Frau Wang im fünften Monat des neuen Mondjahres einen Besuch ab. In meinen Augen hatte sie sich nie verändert. Sie war immer schon eine alte Frau gewesen, aber an diesem Tag betrachtete ich sie kritischer. Sie war weit jünger als ich heute; als ich sie vor all den Jahren kennen lernte, war sie also höchsten vierzig. Andererseits waren meine Mutter und Schneeroses Mutter etwa in diesem Alter bereits tot, und schon dies galt als langes Leben. Wenn ich zurückdenke, so glaube ich, dass Frau Wang als Witwe weder sterben noch in das Haus eines anderen Mannes ziehen wollte. Sie zog es vor weiterzuleben und für sich selbst zu sorgen. Das wäre ihr nicht gelungen, wenn sie nicht außergewöhnlich schlau und
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