Seidenfächer
die Mutter der Braut Schneerose, uns von ihrem Leben zu erzählen, seit sie Tongkou verlassen hatte.
»Heute werde ich eine Schmährede singen«, verkündete Schneerose.
Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. Wie kam Schneerose darauf, mich öffentlich anzuklagen, wo ich doch diejenige war, der man Unrecht getan hatte? Wenn überhaupt, dann hätte doch ich ein Lied von Vorwurf und Vergeltung vorbereiten müssen.
»Der Fasan schreit, und er ist weithin zu hören«, begann sie. Die Frauen im Raum wandten sich ihr zu, als sie die vertraute, traditionelle Eröffnung hörten. Dann begann Schneerose in dem gleichen Ta-dam-ta-dam-ta-dam -Rhythmus zu singen, den ich seit Monaten im Kopf hatte. »Fünf Tage lang habe ich Räucherwerk verbrannt und gebetet, den Mut zu finden, hierher zu kommen. Drei Tage lang habe ich parfümiertes Wasser gekocht, um meine Haut und meine Kleider zu reinigen, damit ich vor meine alten Freundinnen treten kann. Meine Seele liegt in meinem Lied. Als Mädchen wurde ich als Tochter hoch geschätzt, aber jeder hier weiß, wie schwer mein Leben gewesen ist. Ich habe mein Elternhaus verloren. Ich habe meine Familie verloren. Die Frauen in meiner Familie werden seit zwei Generationen vom Pech verfolgt. Mein Mann ist nicht freundlich zu mir. Meine Schwiegermutter ist grausam. Ich war siebenmal schwanger, aber nur drei Babys haben die Luft dieser Welt geatmet. Jetzt sind nur noch ein Sohn und eine Tochter am Leben. Offenbar bin ich vom Schicksal verflucht. Ich muss in einem
früheren Leben schlimme Taten begangen haben. Ich gelte als minderwertig.«
Die Schwurschwestern der Braut weinten aus Mitleid, wie es üblich war. Ihre Mütter hörten aufmerksam zu – machten oooh und aaah bei den traurigen Stellen, schüttelten den Kopf über das unausweichliche Schicksal einer Frau und bewunderten, wie Schneerose unsere Sprache des Leids gebrauchte.
»Ich hatte nur ein Glück in meinem Leben, und das war meine laotong «, fuhr Schneerose fort – ta dam, ta dam, ta dam. »Wir haben in unseren Vertrag geschrieben, dass nie ein böses Wort zwischen uns fallen sollte, und siebenundzwanzig Jahre lang war das auch so. Wir waren immer ehrlich zueinander. Wir waren wie lange Ranken, für immer miteinander verschlungen. Doch als ich ihr von meinem Leid erzählte, hatte sie keine Geduld. Als sie sah, dass mir nichts mehr einfiel, erinnerte sie mich, dass Männer das Land bestellen und Frauen weben und dass Hunger sich durch Fleiß vermeiden lässt, denn sie glaubte, ich könnte mein Schicksal ändern. Doch kann es eine Welt ohne die Armen und Unglücklichen geben?«
Ich sah zu, wie die Frauen im Raum um sie weinten. Ich war völlig vor den Kopf geschlagen.
»Warum hast du dich von mir abgewandt?«, sang sie mit ihrer hohen, schönen Stimme. »Du und ich, wir sind laotong – unsere Seelen sind eins, selbst wenn wir im täglichen Leben nicht zusammen sein konnten.« Unvermittelt fing sie mit einem neuen Thema an. »Und warum hast du meiner Tochter wehgetan? Frühlingsmond ist zu jung, um es zu verstehen, und du willst es nicht erklären. Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein bösartiges Herz hast. Ich bitte dich, dich zu erinnern, dass unsere gemeinsame Freude einmal so tief ging wie das Meer. Lass nicht noch eine dritte Generation von Frauen leiden.«
Die Stimmung im Raum änderte sich, als die Frauen die letzte Ungerechtigkeit vernahmen. Das Leben war für Mädchen
schon schwer genug, auch ohne dass ich es jemandem, der viel schwächer war als ich, noch schwerer machte.
Ich richtete mich auf. Ich war die Dame Lu, die Frau, der die größte Achtung im ganzen Landkreis entgegengebracht wurde, und ich hätte darüberstehen sollten. Stattdessen hörte ich auf die innere Musik, die schon seit Monaten in meinem Kopf und meinem Herzen hämmerte.
»Der Fasan schreit, und er ist weithin zu hören«, begann ich, während ich mir nun auch eine Schmährede zurechtlegte. Ich wollte vernünftig klingen, deshalb antwortete ich zuerst auf Schneeroses letzte und ungerechteste Anschuldigung. Ich sah eine Frau nach der anderen an, während ich sang. »Unsere beiden Mädchen können keine laotong werden. Sie entsprechen sich in keiner Weise. Eure frühere Nachbarin will etwas für ihre Tochter erreichen, aber ich breche das Tabu nicht. Durch mein Nein habe ich nur getan, was jede Mutter tun würde.«
Dann fuhr ich fort: »Alle Frauen in diesem Zimmer kennen das Elend. Als Mädchen werden wir als wertlose Äste
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