Seidenfächer
Schwächen konzentrierte, zeichnete sich ein Muster aus Täuschung, Betrug und Verrat ab. Ich dachte an die vielen Lügen, die Schneerose mir erzählt hatte – über ihre Familie, ihr Eheleben, selbst über ihre Schläge. Sie war nicht nur keine treue laotong gewesen, sondern auch nicht einmal eine sehr gute Freundin. Eine Freundin wäre ehrlich und aufrichtig gewesen. Als wäre all dies noch nicht genug, ließ ich auch noch die letzten Wochen an mir vorüberziehen. Schneerose hatte mein Geld und meine Position ausgenutzt, um bessere Kleidung, besseres Essen und eine bessere Stellung für ihre Tochter zu bekommen, während sie meine Hilfsangebote und alle meine Vorschläge ignoriert hatte. Ich kam mir betrogen und unglaublich dumm vor.
Und dann geschah etwas ganz Seltsames. Ein Bild meiner Mutter erschien vor meinem inneren Auge. Ich erinnerte mich,
wie ich als Kind immer von ihr geliebt werden wollte. Ich wollte ihre Zuneigung gewinnen, indem ich alles tat, was sie während des Füßebindens von mir verlangte. Ich glaubte, ich hätte sie für mich gewonnen, aber sie brachte mir überhaupt keine Gefühle entgegen. Wie Schneerose hatte sie nur an ihre eigenen Interessen gedacht. Meine erste Reaktion auf die Lügen meiner Mutter und ihr mangelndes Interesse an mir war Wut gewesen, und ich hatte ihr nie verziehen. Aber mit der Zeit entfernte ich mich immer weiter von ihr, bis ich mich ganz von ihr befreit hatte. Um mein Innerstes zu schützen, würde ich genau das auch bei Schneerose tun müssen. Ich konnte niemanden wissen lassen, dass ich Todesqualen litt, weil sie mich nicht mehr liebte. Ich musste meinen Zorn und meinen Kummer obendrein verbergen, weil sich solche Empfindungen für eine anständige Frau nicht gehörten.
Ich klappte den Fächer zu und steckte ihn weg. Schneerose hatte mich gebeten zurückzuschreiben. Ich tat es nicht. Eine Woche verging. Ich band meiner Tochter nicht zum vereinbarten Termin die Füße. Eine weitere Woche verging. Lotos stand wieder vor der Tür. Diesmal hatte sie einen Brief dabei, den Yonggang mir ins obere Gemach brachte. Ich faltete das Papier auf und betrachtete die Schriftzeichen. Bisher waren sie mir immer wie ein zärtliches Streicheln vorgekommen. Nun sah ich sie als Dolche.
Warum hast du nicht geschrieben? Bist du krank, oder ist das Glück wieder zu Gast in deinem Heim? Ich habe meiner Tochter am vierundzwanzigsten Tag die Füße gebunden, genau wie du und ich damals. Hast du auch an diesem Tag angefangen? Ich blicke durch mein Gitterfenster hinüber zu deinem. Mein Herz steigt auf zu dir und besingt das Glück unserer Töchter.
Ich las den Brief einmal durch, dann brannte ich eine Ecke des Papiers an der Flamme der Öllampe an. Ich sah zu, wie sich die Ecken einrollten und die Worte zu Rauch wurden. In den folgenden Tagen – als es draußen kälter wurde und ich schließlich mit dem Füßebinden meiner Tochter begann – kamen noch mehr Briefe. Ich verbrannte sie alle.
Ich war dreiunddreißig Jahre alt. Mit Glück würde ich noch weitere sieben Jahre leben, mit noch mehr Glück noch siebzehn. Ich konnte dieses scheußliche Gefühl im Bauch keine Minute mehr ertragen, schon gar nicht ein Jahr oder noch länger. Meine Qual war groß, aber ich riss mich genauso zusammen wie damals während des Füßebindens, während der Epidemie und in dem Winter in den Bergen. Ich begann damit, mir »eine Krankheit aus dem Herzen zu schneiden«, wie ich es nannte. Jedes Mal, wenn mir eine Erinnerung kam, übermalte ich sie mit schwarzer Tusche. Wenn mein Blick auf ein Erinnerungsstück fiel, schob ich es weg, indem ich die Augen schloss. Wenn die Erinnerung in Form eines Geruchs kam, vergrub ich die Nase in einer Blüte, gab eine Extraportion Knoblauch in den Wok oder beschwor den Geruch der Hungersnot in den Bergen herauf. Wenn eine Erinnerung meine Haut streifte – durch die Berührung meiner Tochter an der Hand, den Atem meines Mannes nachts an meinem Ohr oder einen schwachen Luftzug auf den Brüsten, wenn ich badete -, kratzte, rubbelte oder klopfte ich sie weg. Ich war schonungslos wie ein Bauer nach der Ernte, der jedes letzte Überbleibsel dessen herausriss, was in der Saison zuvor noch seine wertvollste Feldfrucht gewesen war. Ich wollte alles roden, bis nur noch blanke Erde übrig war, denn nur so konnte ich mein verletztes Herz schützen.
Als mich die Erinnerungen an Schneeroses Liebe weiterhin quälten, baute ich einen Blumenturm wie den, mit dem wir damals den Geist von
Weitere Kostenlose Bücher